Ich nenne mich nicht gern Kantor. Ich sage lieber »Vorbeter« oder »Vorsänger«, wenn mich jemand fragt. Als Kantor sollte man schon Noten lesen können und die Melodien richtig kennen. Beides beherrsche ich nicht. Das sage ich ganz ehrlich. Unangenehm ist mir das allerdings nicht, wir alle in unserer Cottbuser Gemeinde kennen einander sehr gut. Wir sind zwar etwas mehr als 400 Mitglieder, aber nur ein kleiner Teil davon kommt regelmäßig in die Synagoge.
Aufgeregt bin ich eigentlich nie. Es sei denn, unser Rabbi Nachum Pressman schaut vorbei, dann bin ich schon etwas nervös. Ich frage mich, was er sich wohl denkt, wenn er mich singen hört. Ich treffe ja manchmal die Töne gar nicht richtig. Man kann das auch Improvisation nennen, was ich da mache.
kiddusch Als mich der Rabbi das erste Mal gehört hat, war er ziemlich überrascht. Jetzt hat er sich allerdings an die kleine Besonderheit unserer Gemeinde gewöhnt. Er sagt immer auf Russisch »molodec« zu mir, »gut gemacht«. Wir sind nämlich eine russischsprachige Gemeinde.
Sie fragen sich wahrscheinlich, wie ich überhaupt Kantor geworden bin, wenn ich doch gar nicht singen kann. Das hängt mit einer anderen Sache zusammen: Ich spreche Hebräisch. Damit bin ich in unserer Gemeinde ein Unikat. Hier sprechen alle Russisch, einige beherrschen Deutsch, einige auch Englisch. Aber keiner kann Hebräisch – außer mir.
Als ich vor 17 Jahren mit meiner Familie in Cottbus angekommen bin und nach kurzer Zeit die damals frisch gegründete Gemeinde kennenlernte – 1998 war das –, war ich sozusagen prädestiniert für den Job. Ich habe die Gemeinde an einem Freitag besucht. Da ist mir aufgefallen, dass wirklich niemand Hebräisch beherrscht. »Lasst mich doch den Kiddusch sagen«, habe ich damals angeboten. Von da an war ich engagiert. Und die Aufgaben wuchsen und wuchsen.
abendkurs In meiner Heimatstadt Sankt Petersburg – oder eigentlich müsste ich sagen: Leningrad, denn so hieß sie während meiner Kindheit und Jugend noch – habe ich bereits Hebräisch gelernt. Damals war ich noch Student, mein Studiengang nannte sich »Automatische Steuerungssysteme«. Mein eigentliches Ziel war es, in Israel zu studieren und dorthin auszuwandern. Das hatten zu der Zeit einige von uns vor. Israel – das war damals das Thema unter uns. Also schrieb ich mich in einen Abendkurs ein und lernte die Sprache sehr intensiv, die Kurse gingen über viele Monate.
Mir gefiel Hebräisch von Anfang an. Es klingt fantastisch, und schwer ist es auch nicht. In Israel bin ich am Ende allerdings nicht gelandet. Da kam dann doch Deutschland dazwischen. Denn ich bekam ein Jobangebot in Frankfurt am Main. Anderthalb Jahre arbeitete ich dort als Programmierer. Als ich nach Sankt Petersburg zurückkehrte, entschieden wir uns – das heißt, meine Eltern und ich –, nach Deutschland auszuwandern. Ich beherrschte bereits etwas die Sprache und kannte das Land ein wenig. Also warum nicht, haben wir uns gedacht.
Den ersten Kontakt zur Liturgie hatte ich ebenfalls in Sankt Petersburg. Durch meinen Hebräischkurs lernte ich eine jüdisch-religiöse Gruppe kennen. Die Organisation kam aus den USA. Einige von uns wurden dadurch tatsächlich richtig religiös, ich aber nicht. Ich bin Atheist geblieben.
bäckerei Zum ersten Mal eine Synagoge besucht habe ich mit circa fünf, sechs Jahren. Meine Großmutter nahm mich in eine mit. Ich war damals ziemlich erstaunt. Ich kannte bereits den Begriff Synagoge. Meine Oma sagte nämlich öfter, sie habe Mazza aus der Synagoge dabei. Ich freute mich immer über das Stückchen Brot. Und dachte: Die Synagoge, das muss eine ganz besondere Bäckerei sein. Als ich das Gebäude als kleiner Junge erstmals betrat, war ich verwirrt. »Warum braucht eine Bäckerei solch einen großen Saal?«, fragte ich mich damals – und fand meine ganz eigene Antwort darauf: »Wahrscheinlich, um Bankette zu veranstalten.«
Mit 16 Jahren war ich dann zum zweiten Mal in einer Synagoge. Auch an dieses Erlebnis kann ich mich noch sehr gut erinnern. Denn die Gemeinde dort feierte an dem Tag Simchat Tora. Das Fest wurde von sowjetischen Juden am liebsten begangen, ich glaube, weil es erschwinglich war.
So wuchs ich also immer mehr ins Jüdischsein hinein. Als ich meiner Mutter von meinen Israel-Plänen und der jüdischen Organisation erzählte, war sie im ersten Moment schockiert. Heute steht sie natürlich hinter mir, genauso wie mein Vater. Beide kommen regelmäßig in die Synagoge. Mein Vater gehört zum harten Kern, so bezeichne ich jene, die wirklich bis zum Ende eines Gebets bleiben.
tricks Da in unserer Gemeinde in Cottbus wirklich die wenigsten Ahnung haben vom Ablauf eines Gebets, habe ich mir ein paar Tricks einfallen lassen. Ich habe die Gebetsbücher präpariert, um es den Mitgliedern einfacher zu machen. Denn klar, als ich erstmals in einer Synagoge saß, wusste ich auch nicht: Wann soll ich singen, wann aufstehen, wann still beten? So geht es den anderen auch.
Es gibt bei uns Markierungen in den Büchern: Die gelben Passagen stehen für den Kantor, die grünen zeigen auf, dass die Gemeinde zu stehen hat, und rot heißt, dass im Chor gesungen wird. Einzelne Anweisungen habe ich auch doppelt unterstrichen – sonst werden sie überlesen.
Bei uns sind alle schon etwas älter. Ich gehöre mit meinen Mitte 40 zu den Jüngsten. Wenn unser Rabbi oder eines unserer strengen Mitglieder nicht anwesend ist, gebe ich auch mal ein Zeichen zum Zurückblättern oder nenne die kommende Seitenzahl. Man muss sich eben zu helfen wissen. Ohne die kleinen Tricks und Hinweise würde es bei uns nicht klappen.
weiterbildung Seit ich in unserer Gemeinde als »Kantor« arbeite, nehme ich regelmäßig an Weiterbildungen teil. Es gibt im Frühjahr und im Herbst jeweils einen viertägigen Kantorenkurs. Wirklich viel ist das nicht. Aber immerhin. Die Tage dort sind sehr anspruchsvoll. Kantor Joseph Malovany wird extra aus den USA zu uns eingeflogen.
Ich denke, ich bleibe trotzdem ein hoffnungsloser Fall, wenn es um die musikalische Perfektion geht. Aber ich werde weiterhin mein Bestes geben. Ich singe wirklich gern für meine Gemeinde. Auch wenn mich hier nur die wenigsten verstehen, ansprechen tut es sie trotzdem.
Mein Lieblingsgebet ist übrigens das »Awinu Malkenu«. Dort heißt es: »Unser Vater, unser König, sei uns gnädig und erhöre uns, auch wenn wir keine guten Taten aufweisen können! Erweise uns Gnade und Güte, hilf uns!« Es wird nicht oft gesungen, aber wenn es auf der Tagesordnung steht, dann holen immer alle ihre Taschentücher heraus. Denn allein die Melodie ist sehr emotional. Die Menschen auf diese Weise zu berühren, finde ich schön.
synagoge Dass es die Gemeinde in Cottbus gibt, ist sehr wichtig. Nicht die Religion steht bei uns an erster Stelle, dafür aber das Gemeinschaftliche. Ich nenne die Gemeinde auch gern »Klub«. Hier trifft man sich, tauscht sich aus, spricht Russisch, hilft einander, schmiedet gemeinsame Pläne, stellt Veranstaltungen auf die Beine. Über viele Jahre fanden alle unsere Zusammenkünfte im Gemeindezentrum statt. Seit zwei Jahren haben wir nun unsere eigene Synagoge, mitten im Zentrum der Stadt. Die Historie dieses Gebäudes interessiert viele, die nach Cottbus kommen. Dass eine ehemalige evangelische Kirche heute von Juden genutzt wird, ist schon eine besondere Geschichte.
Oftmals finden Touristen den Weg zu uns. Wenn ich da bin, mache ich gern Führungen, kläre über die Besonderheiten auf.
Unser Toraschrein etwa hat eine ganz besondere Geschichte: Regionale Handwerker haben ihn gestaltet. Die Tür schmückt eine Darstellung der alten Synagoge, die es in Cottbus bis 1938 gab. Unsere Torarolle stammt übrigens aus Frankreich.
Ich fühle mich in Cottbus heute wohl. Zu Beginn war es eine Umstellung, in einer Kleinstadt heimisch zu werden. Aber ich brauche nicht viel zum Glücklichsein. Ich habe meine Eltern hier, arbeite in der Uni in der IT-Abteilung. Außerdem gibt es in der Stadt ein erstklassiges Theater. Meine Wohnung mit Blick zum Park liegt nur 15 Minuten von der Synagoge entfernt. Zu Fuß. Und wenn ich doch einmal Lust auf Großstadt habe, fahre ich nach Berlin. Allerdings passiert das eher selten.