Porträt der Woche

Hymne an die Freiheit

Don Jaffé emigrierte aus der Sowjetunion und komponierte die Sinfonie »Exodus 1971«

von Till Schmidt  24.04.2019 09:49 Uhr

»Im Schnoor-Viertel fühlte ich mich auf Anhieb an meine frühere Heimatstadt Riga erinnert«: Don Jaffé (86) lebt in Bremen. Foto: Till Schmidt

Don Jaffé emigrierte aus der Sowjetunion und komponierte die Sinfonie »Exodus 1971«

von Till Schmidt  24.04.2019 09:49 Uhr

Ob in Riga, Jerusalem, West-Berlin oder in Bremen – die Musik war und ist mein Leben. Dabei begann ich als Kind nur deshalb mit dem Klavierspiel, weil mein Vater nach einer Beschäftigung für mich suchte. Schnell galt ich jedoch als Wunderkind. Für meinen späteren Erfolg habe ich aber darüber hinaus auch hart gearbeitet: Die Musikschule für besonders begabte Kinder in Riga absolvierte ich dann in vier Jahren anstatt der üblichen zehn.

Als professioneller Cellist und als Lehrer an verschiedenen Musikhochschulen war ich immer sehr beschäftigt. Sogar so beschäftigt, dass mir bis zur Pensionierung nie in den Sinn kam, auch selbst zu komponieren.

Dazu brauchte es einen Anstoß von außen: Bei meinem letzten Konzert mit den Bremer Philharmonikern war ich nicht zufrieden mit der aufgeführten Komposition. Das erzählte ich einem Kollegen, der nur entgegnete, ich solle das Komponieren doch mal selbst ausprobieren. Dann würde ich schon sehen, wie schwierig das ist. Noch am selben Abend fing ich an mit »Passionen«, einer Sonate für Violoncello solo.

Auch in der Enklave West-Berlin fühlte ich mich schnell eingesperrt und bewarb mich woanders.

Geboren wurde ich 1933 in Riga. Vor mir gab es in unserer Familie keinen einzigen Musiker – aber eine Menge Musikliebhaber. Aufgrund seiner gut laufenden Elektrofirma konnte mein Vater mir im Alter von sieben Jahren die Klavierstunden ermöglichen. Woher meine Begabung kommt, kann ich nicht wirklich sagen. Als Lettland im Juni 1941 von der deutschen Wehrmacht erobert wurde, mussten wir Riga verlassen. Nach monatelanger Flucht gelangten meine Eltern, meine beiden Geschwister und ich nach Sibirien. Bis zur Grenze nach Russland bei Pskow sind wir etwa 250 Kilometer zu Fuß gelaufen, teils schon unter Bombardement.

Hinter der Grenze konnten wir mit dem Zug weiterfahren. Den Sommer über blieben wir in Danilowo, von dort aus ging es weiter nach Karschi an der afghanischen Grenze. Der Plan war eigentlich, von dort nach Palästina zu gelangen. Doch das misslang, da dieser Fluchtweg wegen der Überwachung der Grenze und wegen eines Rücknahmeabkommens für aus der Sowjetunion Geflüchtete unmöglich wurde.

SIBIRIEN Da wir wegen des misslungenen Fluchtversuchs aus der Sowjetunion Repressalien befürchteten, entschieden wir uns, unsere Spuren zu verwischen, und gingen nach Nowosibirsk. Dort blieben wir knapp drei Jahre. Beim Blick zurück denke ich vor allem an den Hunger, die Kälte und den Antisemitismus. Weil ich der einzige Jude war, wurde ich auf dem Schulweg fast täglich blutig geschlagen. Als ein Erwachsener dies einmal beobachtete, kommentierte er: »In der finsteren Nacht, wenn Adolf kommt, dann werden wir alle Juden massakrieren.«

An diese Szene erinnere ich mich selbst heute noch sehr genau. Die Zeit in Sibirien ist Thema meiner Kammersinfonie »Anni horribili«.In unserer Heimat Riga wurden im Herbst 1941 alle Juden der Stadt in das Ghetto verschleppt. Die meisten Rigaer Juden wurden wenig später in den nahen Wäldern erschossen, um Platz zu machen für deportierte Juden aus Deutschland. Alle meine Verwandten, die nicht in die Sowjetunion fliehen konnten, sind vernichtet worden. Die genauen Umstände ihrer Ermordung sind mir bis heute nicht bekannt.

Noch heute mache ich täglich Krafttraining und jogge meine sechs Kilometer.

KAMPFSPORT Trotzdem kehrten wir 1944 nach Riga zurück. Dort habe ich dann gleich mit dem Cello-Unterricht an der Musikschule angefangen, denn für das Klavier, so sagten meine Lehrer, war ich mit meinen 14 Jahren inzwischen zu alt. Um mich verteidigen zu können, habe ich damals auch begonnen, viel Sport zu treiben. Ich habe sogar militärisches Sambo gelernt. Das ist eine Kampfsportart, die in den 20er-Jahren von der sowjetischen Armee entwickelt wurde. Zum Glück musste ich meine Fähigkeiten kaum einsetzen. Es war aber immer gut zu wissen, dass ich mich wehren kann.

Noch heute mache ich täglich Krafttraining und jogge meine sechs Kilometer im Bremer Neustadtpark. Nach meinem Abschluss an der Musikschule für besonders Begabte und am Rigaer Konservatorium fand ich schnell Arbeit als Solist und Kammermusiker. Meine Lehrtätigkeit am Konservatorium, wo ich auch meinen Sohn Ramon unterrichtete, liebte ich sehr. Trotzdem war mir klar, dass ich irgendwann Alija machen würde. Wir waren doch eingesperrt unter Stalin. Angesichts des zunehmenden Antisemitismus in der Sowjetunion ab 1952, als jüdische Ärzte als Regierungsvergifter angeklagt, inhaftiert und teils auch hingerichtet worden waren, warteten wir lange Zeit nur noch auf die passende Gelegenheit, um das Land zu verlassen.

HUNGERSTREIK Die sah ich 1970 gekommen, als 49 Rigaer Juden die Parteizentrale in Moskau besetzt hatten und in den Hungerstreik getreten waren. So versuchten sie, das Regime zu zwingen, sie gehen zu lassen. In der äußerst angespannten, jederzeit möglicherweise eskalierenden Situation des Kalten Krieges machten die USA der Sowjetunion Druck, ausreisewillige Juden hinauszulassen. Als ich davon erfuhr, verstand ich: jetzt oder nie. Und tatsächlich durften wir heraus. Mit meiner Frau Elza und meinen beiden Kinder Ramon und Diana konnte ich endlich nach Israel ausreisen. Diese unglaubliche Erleichterung, im Flugzeug zu sitzen und dann erstmals israelischen Boden zu betreten, thematisiere ich in »Exodus 1971«, einer Kammersinfonie für Cello, Klavier und Streichorchester.

Wir hätten auch nach Amerika gehen können. Doch Amerika war mir fremd.

Doch nicht nur Begeisterung, sondern auch Nachdenklichkeit und Zweifel finden Platz in diesem Werk. Die Kritik bewertete es als »Hymne an die Freiheit«.Zwar durfte ich an der Rubin Academy of Music in Jerusalem lehren und im Radio-
orchester Jerusalem spielen, das war fantastisch! Doch nachdem ich als Freiwilliger im Jom-Kippur-Krieg gekämpft hatte, merkte ich: Hier in Israel wird es immer Krieg geben, meine Kinder werden die nächsten Soldaten sein. Diese Gefahr wollte ich ihnen nicht zumuten, und so verließen wir Israel 1974 wieder – in Richtung Deutschland.

Wir hätten auch nach Amerika gehen können. Doch Amerika war mir fremd. Und da meine Eltern durch ihre Ausbildung zum deutschen Kulturkreis gehörten – mein Vater hatte an der Universität in Berlin studiert, meine Mutter an der deutschen Handelsschule in Riga –, war ich als ihr Nachkomme in Deutschland einbürgerungsberechtigt. Doch auch in der Enklave West-Berlin, wo ich Solocellist bei den Berliner Symphonikern war, fühlte ich mich schnell eingesperrt. Ich fing deshalb an, mich in der Bundesrepublik zu bewerben.

ORCHESTER Die erste Einladung zum Vorspielen kam aus Bremen. Ich war gleich wie verzaubert: Das Schnoor-Viertel und die Atmosphäre am Rathaus – ich war so begeistert von dieser Stadt, dass ich hier unbedingt bleiben wollte. Sie hat mich sofort an Riga erinnert. 1975 wurde ich Mitglied des Bremer Philharmonischen Staatsorchesters und lehrte auch an der Hochschule für Künste Bremen.

Durch den Bremer Senat wurde ich später auch zum Kammermusiker ernannt. Das ist für mich eine große Ehre. Doch als Komponist fühle ich mich hier nicht ausreichend gewürdigt. Es ist seltsam, dass ich vor allem außerhalb Bremens – etwa in den Niederlanden, Österreich oder in Armenien – gespielt werde. Dabei ist Bremen doch meine Heimatstadt.Meine Werke sind durch die jüdische und meine persönliche Geschichte geprägt und widmen sich thematisch häufig der Schoa und deren Opfern. So etwa meine Vertonung von Paul Celans »Todesfuge« für Violoncello, Orgel und Chor oder »Shoa« für Violoncello solo. Dazu kommen Kompositionen wie »Anni horribili« oder »Via dolorosa ebraica« für Cello und Klavier, die sich mit der Diskriminierung und Verfolgung in Europa und darüber hinaus auseinandersetzten.

ANERKENNUNG Radio Bremen hat noch keines meiner Stücke gesendet – auch nicht, als ich dem Sender eine Auswahl meiner CDs zur Verfügung stellte. Zumindest die Gedenktage am 27. Januar oder am 9. November wären doch passende Anlässe, meine Werke aufzuführen. Doch geschehen ist bis heute nichts. Seit Jahren bemühe ich mich in Bremen vergeblich um Anerkennung meiner Tätigkeit als Komponist und um die Realisation meiner Werke – die außer in meiner Heimatstadt vielerorts gespielt und geschätzt werden.

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