Es geht familiär zu an diesem Sommerabend Mitte Juni im Restaurant Kanaan. Chefkoch Gal Ben-Moshe bestückt die Teller mit Gerichten, die in der israelischen und der arabischen Küche gleichermaßen beliebt sind, und scherzt nebenbei mit den ersten Gästen, die in dem Lokal in der Kopenhagener Straße in Prenzlauer Berg eintreffen. Rund 50 haben sich für das Fünf-Gänge-Wohltätigkeitsdinner gegen Antisemitismus angemeldet; die meisten von ihnen sind mit dem Kanaan bereits verbunden – Bekannte, Nachbarn, Stammgäste oder sonstige Unterstützer.
Denn so gesellig die Runde auch sein mag, der Anlass ist ernst: Nachdem die Zahl antisemitischer Angriffe auf Juden und Israelis in Deutschland zuletzt deutlich gestiegen ist, haben sich die Inhaber des Kanaan, der Israeli Oz Ben David und sein palästinensischer Geschäftspartner Jalil Debit, bereit erklärt, das Projekt »Junge Muslime in Auschwitz« zu unterstützen, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen zu bekämpfen.
Projektleiter Burak Yilmaz ist für die Veranstaltung extra aus Duisburg angereist. Dort arbeitet er bei »Heroes Duisburg«, einer Initiative, die jugendliche »Peers« aus postmigrantischen Gruppen ausbildet und sie zu Workshops mit Gleichaltrigen in Schulen schickt, wo sie in Rollenspielen kontrovers diskutierte Themen ansprechen – neben Gleichberechtigung und »Ehre« eben auch Antisemitismus.
youtube Während das Kanaan-Team Wasser aus großen Karaffen nachschenkt, erzählt Yilmaz, wie genau der Erlös eingesetzt werden soll – unter anderem für eine Videokampagne gegen Antisemitismus, die sich an Schüler richtet und über Kanäle wie Facebook, YouTube oder Twitter verbreitet werden soll.
Bereits seit 2012 organisiert der Heroes-Gruppenleiter jährliche Fahrten für muslimische Jugendliche in das ehemalige Vernichtungslager Auschwitz. Vor den Reisen gibt es stets eine lange Vorbereitungszeit, in der sich die Teilnehmer mit den Themen Judentum und Israel auseinandersetzen – für die meisten von ihnen Feindbilder, die sie seit der Kindheit begleiten. Ihre Erfahrungen in der Gedenkstätte verarbeiten die Gruppenteilnehmer anschließend in einem Theaterstück.
Der 28-jährige Germanist will seine Botschaft über Duisburg hinaustragen und mit einer Videoreihe gegen Antisemitismus Schulhöfe deutschlandweit erreichen. Um die notwendigen Gelder dafür zusammenzubekommen, hat er eine Spendenkampagne über die Plattform »GoFundMe« gestartet. Ein Großteil der benötigten Spenden konnte bereits gesammelt werden. Um die noch fehlenden Gelder zu beschaffen, hat das Team von GoFundMe Deutschland gemeinsam mit dem Kanaan den Charity-Abend organisiert.
Feinste nahöstliche Speisen zugunsten eines handlungsorientierten und nachhaltigen Projekts gegen Antisemitismus – diese Kombination hat nicht nur die beiden Restaurantinhaber begeistert, sondern neben dem regelmäßigen Kanaan-Publikum auch die Grünen-Politiker Cem Özdemir und Volker Beck.
Der Erlös fließt in das Projekt »Junge Muslime in Auschwitz«.
Gegessen wird trotz des lauen Sommerabends nicht an den Biertischen vor dem Kanaan mit Sand und Strandbar-Feeling, sondern nebenan, in der benachbarten »REH RaumErweiterungsHalle«, die normalerweise dem Möbeldesigner Ulf Geyersbach als Showroom für seine recycelten Kreationen dient. »Wir machen ohnehin relativ viel mit dem Kanaan zusammen«, sagt Geyersbachs Frau. So haben sie an diesem Abend ihre Halle kostenfrei zur Verfügung gestellt und ihrerseits Freunde zu der Charity-Veranstaltung eingeladen.
Oz Ben David erklärt vorweg, dass das Menü auf traditionellen Gerichten basiert, die bei seiner Großmutter oder in der Familie seines Geschäftspartners Jalil Debit zu Hause gekocht werden und mit Familienerinnerungen verbunden sind. Passend zu jedem Gang gibt es libanesische Weine.
gemeinsamkeiten Während das Kanaan-Team die ersten Gänge serviert – Kadaif mit Fetakäse von der Ziege, Aubergine und Feigenmarmelade mit Granatapfel-Melasse sowie Weinblätter in »Großmutter Rachels Zitronenmarmelade« und Sahnesoße –, schildert Ben David die Mission seines Restaurants und die Motivation für diesen Abend.
Er beschreibt einen ganz normalen Arbeitstag, an dem er sich um 7 Uhr morgens gemeinsam mit seinem syrischen und palästinensischen Mitarbeiter über die Vorbereitungen für das Dinner bespricht. Gemeinsam arbeiten sie in der Küche und tauschen sich dabei über alte Familienrezepte aus. Dabei entdecken sie viele Gemeinsamkeiten – beim Essen und in der Sprache.
Genau das ist es, was Ben David und Debit mit ihrer Arbeit erreichen möchten – Kochen und Essen als Brücke, die Menschen verbindet. Die Gesellschaft besser zu machen für die nächste Generation, sei eben »nicht nur die Aufgabe von Politikern oder Lehrern, sondern jedes Einzelnen«, finden beide. Daher setzt sich das Kanaan-Team aus Israelis, Syrern, Deutschen, Australiern und Eritreern zusammen. Menschen zu verbinden, ist auch Burak Yilmaz’ Ziel.
»Bei uns funktioniert das über Bildung«, erklärt der 28-Jährige und schildert seine Beweggründe für das aktuelle Videoprojekt. »Jugendliche verbringen 60 Prozent ihrer freien Zeit im Internet – dort werden sie massiv mit antisemitischen Inhalten wie etwa Verschwörungstheorien konfrontiert«, berichtet er. Die Videoreihe soll »digitale Gegennarrative« schaffen und wird über genau die Kanäle verbreitet, die Jugendliche ohnehin täglich über ihre Handys nutzen. »Wir wollen dieses Feld nicht den Antidemokraten überlassen«, fasst der Duisburger den Kern seiner Kampagne zusammen.
Muslime Unter den Stichworten »Heroes Duisburg« und »Junge Muslime in Auschwitz« finden sich auf YouTube selbst gedrehte Videos, die Einblick in die Gedankenwelt der Jugendlichen geben. Nun sind mithilfe der Spendengelder fünf professionelle Videos in Arbeit, die sich ganz konkreten Themen widmen. Dazu gehören beispielsweise Erziehung zum Hass, Verschwörungstheorien oder die Frage »Was hat Auschwitz mit mir zu tun?«. Muslimische Jugendliche berichten darin von ihrer Auseinandersetzung mit der Schoa und dem damit verbundenen sozialen Druck und setzen sich zugleich damit auseinander, was »Deutschsein« für sie bedeutet.
Wichtig ist dem Pädagogen, jungen Menschen konkretes Rüstzeug und Argumente mit auf den Weg zu geben, um sie für die Auseinandersetzung zu stärken. Auf diese Weise können sie »nicht nur kritisches Geschichtsbewusstsein entwickeln, sondern am eigenen Leib spüren, dass sie Geschichte verändern können«, ist Yilmaz überzeugt. »Wir müssen Jugendliche stärken – empowern –, damit sie handeln.«
Cem Özdemir berichtet am Ende des Dinners von dem Moment, als er zum ersten Mal von der Schoa erfuhr – während einer Klassenfahrt nach Dachau. Er beschreibt die Verwirrung und Überforderung, die der Besuch in der Gedenkstätte bei ihm auslöste, und erzählt davon, wie er infolgedessen Geschichte zu hinterfragen begann. »Niemand kommt als Rassist, Antisemit oder Islamfeind auf die Welt«, betont er. »Es liegt an uns allen, etwas dagegen zu tun.«