Mehr als 6000 Briefe und unzählige Tagebucheinträge entstammen ihrem Geist und ihrer Feder: Rahel Varnhagen von Ense (1771–1833). Berühmt geworden ist sie mit ihren zwei Berliner Salons und ihrer Gabe, gesellige Kreise zu initiieren. Zu ihren Lebzeiten sollte keines ihrer Werke publiziert werden – was ihr Ehemann Karl-August Varnhagen von Ense nach ihrem Tod nachholte.
Glücklicherweise, denn so konnte sie in ihren Werken überleben. Mehrere Tausend Seiten dürften heute ihre Aufzeichnungen umfassen. Zahlreiche Persönlichkeiten des 18. und 19. Jahrhunderts waren Gäste in ihren beiden Salons oder standen mit ihr im Briefwechsel, darunter die Brüder Humboldt, Gottlieb Fichte, Friedrich Schlegel, Ludwig Tieck und Prinz Louis Ferdinand.
Familie Am 19. Mai vor 250 Jahren wurde Rahel Levin in eine wohlhabende orthodoxe Familie in Berlin geboren und ließ später wissen, dass sie »auf meine Geburtstage nicht viel halte«, so der Autor Dieter Lamping. Grund genug für den Germanisten, Rahel Varnhagen nun mit einer Hommage zu würdigen.
Der Autor hat einen eigenen Schwerpunkt gewählt: den Versuch Varnhagens Selbstfindung als Frau, Menschenfreundin und Wohltäterin, frei von allen Konventionen.
In dem schmalen Buch Rahel Varnhagen. Ich lasse das Leben auf mich regnen schafft er es, auf 135 Seiten ein lebendiges, vielseitiges Porträt entstehen zu lassen. Dabei bringt er sehr viele Informationen in wenigen Sätzen unter, weshalb die Lektüre einige Konzentration erfordert. So erfährt man vieles über Rahel Varnhagen, ihr Leben und ihre Zeit. Als Grundlage dienten Lamping Varnhagens Aufzeichnungen und Schriften über sie von Weggefährten.
Lamping hat einen eigenen Schwerpunkt gewählt, nämlich den Versuch ihrer Selbstfindung als Frau, Menschenfreundin und Wohltäterin, frei von allen Konventionen. Sie wollte zuallererst als Mensch gesehen werden, schreibt er. »Von sich zu sagen, man sei ein Mensch, kann leicht banal oder sentimental klingen. Das ist es aber nicht, wenn einem oder einer verwehrt wird, sich als Mensch zu entfalten, ihm oder ihr Menschenrecht oder Menschenwürde verweigert wird.«
ROLLEN Immer wieder habe sie sich vor allem auf zwei Rollen verwiesen gesehen: Die eine war die einer Frau, die für Kinder verantwortlich ist, sich um den Haushalt kümmert und ein gesellschaftliches Leben nur an der Seite des Ehemannes haben soll, die andere die der Jüdin, die sie zeitweise noch entschiedener ablehnte.
Sie wollte sich vom Judentum lösen, ließ sich taufen und heiratete erst, als sie sich sicher sein konnte, ihre Freiheit behalten zu können. »Ein Mensch zu sein, der sich stetig verbessert und denkt«, das sei ihr Ziel gewesen, so Lamping.
Und unter diesem Gesichtspunkt ist auch seine Hommage zu verstehen. Varnhagen war eine Menschenfreundin, schreibt er und zitiert sie: »Menschen locken, rühren, und reizen mich.« Dabei greift er in kurzen Kapiteln ihre Themen auf: wie sie zu ihren Namen steht – die sie bis auf Rahel durchaus änderte –, wie sie aufgewachsen ist, den ersten und später den zweiten Salon unterhielt, ihre Reisen, ihre Freundschaften, ihre Lieben, ihre Gedanken zum Schreiben und ihre Meinung zu Krieg und Frieden.
ERSCHEINUNG Sie war klein und dürfte eine auffällige Erscheinung gewesen sein. Sie selbst habe sich als »nicht hübsch« und »nicht graziös« bezeichnet, aber für sie schien das sowieso unwichtig zu sein. Der Schriftsteller Franz Grillparzer beschrieb sie so: »Nun fing aber die alternde, vielleicht nie hübsche, von Krankheit zusammengekrümmte, etwas einer Fee, um noch zu sagen einer Hexe ähnlichen Frau zu sprechen an, und ich war bezaubert.« In ihren letzten Lebensjahren litt sie an mehreren Krankheiten und fürchtete die Cholera-Pandemie, die damals wütete. Sie zog sich zurück, um nachzudenken, so Lamping.
Wer nach der Lektüre des kleinen Buches Lust auf mehr bekommen hat, findet noch Literaturangaben, denn der Autor hat sowohl Rahel Varnhagens Werke aufgeführt als auch Bücher, die über sie geschrieben wurden. Es gibt noch mehr als 6000 Seiten zu lesen.
Dieter Lamping: »Rahel Varnhagen. Ich lasse das Leben auf mich regnen«. ebersbach & simon, Berlin 2021, 144 S., 18 €