Ob plärrende Smartphones oder aufpoppende E-Mail-Benachrichtigungen: Viele von uns verfolgt die Arbeit bis in die Freizeit. Doch was macht diese permanente Erreichbarkeit eigentlich mit uns und unserer Gesundheit? Leidet das Sozialverhalten unter zu viel Technik?
Werden Homeoffice und Videokonferenzen auch nach der Corona-Krise unseren Arbeitsalltag bestimmen? Diesen Fragen widmete sich am vergangenen Wochenende ein Webinar der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) und richtete sich damit an junge jüdische Erwachsene im Alter zwischen 18 und 30 Jahren.
Die Videokonferenz mit dem Titel »24h Online – Surfst du noch oder lebst du schon?« war ursprünglich als Präsenzveranstaltung in Berlin geplant. Wegen der Corona-Pandemie fand das Programm mittels der digitalen Konferenzplattform »Zoom« statt. Dem Interesse tat die Verlegung ins Digitale keinen Abbruch. 16 Teilnehmer hatten sich zum Webinar am Freitag und Sonntag zugeschaltet.
DRUCK »Das Thema der ständigen Erreichbarkeit und der Druck vom Arbeitgeber, von Freunden oder auch von Familienmitgliedern, schnell auf Nachrichten antworten zu müssen, ist in der Corona-Pandemie aktueller denn je«, sagt Sabine Reisin. Für die langjährige Organisatorin von ZWST-Seminaren war es das erste Webinar. »Wir alle müssen mit den über uns hereingebrochenen Umstellungen von physischen Veranstaltungen auf digitale Formate umgehen«, sagt Reisin. »Die Herausforderungen, die die Digitalisierung in allen Bereichen unseres Lebens mit sich bringt, betreffen die gesamte Gesellschaft.«
Den Auftakt des Webinars bildete ein Gespräch mit dem Kulturredakteur und CvD Online der Jüdischen Allgemeinen, Philipp Peyman Engel, zu der Frage, welche Auswirkungen die Dauererreichbarkeit auf Arbeit und Privatleben hat. »Im Online-Journalismus muss es immer schnell gehen, die Aktualität der Nachrichten hat höchste Priorität. Anders als bei der klassischen Printproduktion gibt es – außer an Schabbes – quasi nie einen Redaktionsschluss«, sagte Engel. Die tägliche Flut von Hunderten E-Mails, SMS und Nachrichtenticker-Meldungen könne eine große Herausforderung sein. »Man muss gut organisiert sein und strukturiert arbeiten, um alles unter einen Hut zu bekommen.«
STRESSFAKTOR Dass das Smartphone nicht nur für Journalisten zum Stressfaktor Nummer eins werden kann, belegt eine Studie der Wirtschaftsberatung Deloitte. Die 2018 veröffentlichte Untersuchung mit dem Titel »Im Smartphone-Rausch: deutsche Mobilfunknutzer im Profil« hat ergeben, dass die Deutschen im Schnitt 30-mal am Tag auf ihr Smartphone schauen. Bei den 18- bis 24-Jährigen liegt dieser Wert sogar bei 56-mal.
Eine Studie von 2018 belegt, dass 18- bis 24-Jährige bis zu 56-mal täglich auf ihr Smartphone schauen.
Für die repräsentative Untersuchung hat Deloitte 2000 deutsche User online befragt. Interessant ist, wofür die Befragten ihr Smartphone nutzten. Am häufigsten verwendeten sie es für WhatsApp- und andere Messenger-Kontakte, 61 Prozent taten das laut der Befragung täglich. Es folgten E-Mails mit 43 Prozent und soziale Netzwerke mit 35 Prozent. Zum klassischen Telefonieren wurde es hingegen nur zu 32 Prozent verwendet.
»Ich glaube, die Dosis der täglichen Smartphone-Nutzung macht das Gift«, sagte Engel. Er habe sich feste Regeln gesetzt, um das Mobiltelefon auch mal links liegen zu lassen. »Beim Joggen, Schwimmtraining oder beim Spielen mit meiner kleinen Tochter denke ich erst gar nicht an das Smartphone. Dann bin ich nur in diesem Moment«, sagte der Journalist.
Das Thema der ständigen Erreichbarkeit ist in Corona-Zeiten aktueller denn je.
Dass bewusstes Digital Detox wichtig ist, um abschalten zu können, fanden auch viele Seminarteilnehmer, die mit Blick auf ihre Altersgruppe der Deloitte-Studie zufolge zu den Hauptkonsumenten von Smartphones gehören. »Ich schalte mein Smartphone nachts immer aus«, sagte Thomas Mayer, der beim Webinar von Hamburg aus zugeschaltet war. Um Beruf und Freizeit besser trennen zu können, hat sich Mayer zwei Mobiltelefone zugelegt. »Wenn ich arbeite, schalte ich mein privates Telefon auf stumm. Dann komme ich gar nicht erst in Versuchung«, sagte der junge Mann.
FREIRÄUME Für David Lisov aus Offenbach ist das Football-Training ein technikfreies Refugium. »Wenn ich auf dem Spielfeld bin, ist es für mich wichtig, mich auf das Match zu konzentrieren. Da checke ich auch in den Pausen keine Nachrichten und News«, sagte der 19-Jährige, der zurzeit seinen Bundesfreiwilligendienst im jüdischen Altenheim in Frankfurt am Main absolviert. »Ich will mich beim Sport bewusst aus der Kommunikationsflut ausklinken.«
Eine wissenschaftliche Perspektive zum Thema Medienkonsum steuerte der Psychoanalytiker Rainer Funk vom Erich-Fromm-Institut Tübingen bei. In seinem Vortrag »Wer bin ich ohne mein Smartphone?« drehte sich alles um die Frage, wie sich die Nutzung digitaler Technik auf das Selbstbild und die Beziehungen des heutigen Menschen auswirkt. »Zwischenmenschliche Beziehungen finden zunehmend im Digitalen statt«, erläuterte Funk.
ABHÄNGIGKEIT In der Corona-Krise, in der physischer Kontakt stark eingeschränkt ist, werden Smartphones und digitale Chat-Formate zwar als Segen wahrgenommen, aber es bestehe auch eine ernste Gefahr der Abhängigkeit. »Das personalisierte Smartphone ist nicht mehr nur bloßes technisches Hilfsmittel, sondern wird vom Nutzer als Teil der Identität wahrgenommen, über die man sich definiert«, erklärte der Hochschullehrer. Um Techniksucht und Burn-out entgegenzuwirken, seien bewusste Pausen vom Mobiltelefon und vom Laptop entscheidend. »Gerade auch im Homeoffice!«
Für Seminarteilnehmer David Lisov hat sich das Webinar gelohnt. »Die Zoom-Konferenz war für mich etwas ganz Neues, ich hatte das vorher noch nie gemacht«, zog er Bilanz. »Das Thema trifft den Nerv der Zeit in der Corona-Krise.« Allerdings könne ein virtuelles Seminar das persönliche Gespräch mit Augenkontakt seiner Meinung nach nicht ersetzen. »Wenn du zusammen mit anderen Menschen in einem Raum bist und einem Vortrag lauschst, werden mehrere Sinne beansprucht«, sagte er. »Dieses gewisse Flair kann Online nicht ersetzen.«