Solange ich zurückdenken kann, bin ich zur Fasnacht gegangen. Ich liebe das Verkleiden, die Stimmung der ausgelassenen Menschen, und ich kann auch herzlich über Büttenreden lachen. Als Kind ging ich am liebsten als Cowboy verkleidet. Mit Vorliebe habe ich dieses Kostüm zur Kinderfasnacht getragen, begleitet von meiner Schwester Rita als Prinzessin. Unsere Eltern haben diese Leidenschaft immer unterstützt. In diesem Jahr bin ich ein Prinz. Und zwar der einzige. Mannheims größte Karnevalsgesellschaft Feuerio hat mich zum Stadtprinzen ernannt und somit zum Fasnachtsprinzen der ganzen Kurpfalz gemacht. Eine wunderbare Ehre in einer Stadt, in der die Fasnacht eine große gesellschaftliche Rolle spielt.
Seit meiner Inthronisierung Mitte Januar bin ich gemeinsam mit Stadtprinzessin Manuela I. der oberste Repräsentant der Mannheimer Kampagne. Ich besuche die Prunksitzungen und Bälle der einzelnen Vereine, halte Empfänge bei Firmen ab, um dort den Menschen die Fasnacht und den Gedanken, der sich dahinter verbirgt, näherzubringen. Dass ich Jude bin und der Karneval eigentlich ein stark katholisch geprägter Brauch ist, hat dabei kaum eine Rolle gespielt.
Normalität Meine Schwester begleitet mich oft zu Veranstaltungen und trägt stolz meinen Orden. Auch aus der jüdischen Gemeinde habe ich nur positive Stimmen gehört, die mein Engagement loben und nicht kritisieren. Einige haben mir gesagt, dass sie es sehr schätzen, dass ich so etwas wie Normalität ins gesellschaftliche und soziale Leben bringe. Dieser Zuspruch ist mir ausgesprochen wichtig. Mein Platz in der Synagoge ist zwar nicht immer besetzt, trotzdem fühle ich mich der Gemeinde stark verbunden.
Bei den nichtjüdischen Mannheimern war weniger meine Religionszugehörigkeit als meine Körpergröße ein Thema. Ich bin ein Meter sechzig. Die Stadtprinzessin überragt mich um stolze 17 Zentimeter. Aber das stört mich nicht. Schon als Kind habe ich gelernt, mit meiner Körpergröße selbstbewusst umzugehen. Ich hatte Eltern, die sich sowohl im sozialen, kulturellen als auch im politischen Bereich engagierten. Sie waren Brückenbauer, die uns Kinder offen erzogen und wichtigere Werte vermittelten als Äußerlichkeiten.
Das sehe ich nicht als Selbstverständlichkeit an, denn meine Eltern sind beide Schoa-Überlebende. Mein Vater wurde 1919 geboren. Er durfte das Gymnasium in Worms »aus rassischen Gründen« nicht beenden, auch zur Kaufmannsprüfung wurde er nicht zugelassen. Nach der Pogromnacht 1938 siedelte er mit seinen Eltern und zwei Schwestern nach Mannheim um, von da wurde die ganze Familie im Oktober 1940 in das Lager Gurs am Fuße der Pyrenäen gebracht. Drei Jahre später gelang ihm die Flucht nach Spanien, von dort schaffte er es dank amerikanischer Hilfe nach Israel.
Meine Mutter hat Auschwitz überlebt. Ihre Eltern und ihre Schwester wurden da ermordet. Meiner Mutter gelang die Flucht, aber sie wurde 1945 von polnischen Bauern an die Rote Armee ausgeliefert, die sie in ein Internierungslager in Odessa steckte. Gemeinsam mit ihrem Bruder emigrierte sie schließlich nach Palästina. Meinen Vater lernte sie in Haifa kennen. Trotz aller Schrecken, die sie in Deutschland erlebt hatten, kehrten sie 1951 zurück. Mein Vater trat eine Stelle im Personalamt der Mannheimer Stadtverwaltung an – eine berufliche Karriere, die auch mein Leben beeinflusst hat. Denn ich habe 1980 bei der Stadt eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten gemacht.
Aufgrund dieser Familiengeschichte weiß ich, dass es elementarere Dinge im Leben gibt als die Körpergröße. Ein Foto meiner Großmutter hängt im sogenannten Ort der Information unter dem Holocaust-Mahnmal in Berlin. Es zeigt, wie sie in Gurs im Hof des Lagers Essen zubereitet. Ich wusste lange nicht, dass dieses Foto in der Ausstellung hängt. Ein Kollege hat es vor einigen Jahren entdeckt und mir davon erzählt. Jedes Mal, wenn ich in Berlin bin, schaue ich mir dieses Foto an und werde mir bewusst, wie viel Glück ich habe, überhaupt auf der Welt zu sein.
Dieses Leben genieße ich seit 47 Jahren in vollen Zügen. Ich liebe Musik von Shakira, ABBA und den Rolling Stones, schreie beim Fußball laut und mit Leidenschaft für meinen Lieblingsverein FC Bayern München und treffe mich gerne mit Freunden auf ein Glas Rotwein.
Leidenschaft Die Menschen in meinem Umfeld kennen meine Leidenschaft für die Fasnacht, und ich finde es sehr schön, immer wieder neue Leute kennenzulernen. Über 250 Veranstaltungen besuche ich mit der Prinzessin während der Kampagne. An manchen Tagen müssen wir schon morgens um neun Uhr im Kostüm auf der ersten Feier sein. Das ist manchmal auch anstrengend, es gehen viele Urlaubstage dafür drauf. Das stört mich aber nicht.
Ich bin seit drei Jahren Büroleiter des Bürgermeisters für Wirtschaft, Arbeit, Soziales und Kultur in Mannheim. Das ist ein großes Dezernat mit viel Verantwortung. Meine Tage sind meist nicht nach acht Stunden zu Ende. Es gibt Wochen, da reiht sich Sitzung an Sitzung, und ich verbringe viel mehr Zeit im Rathaus als zu Hause.
Zuvor habe ich 13 Jahre als Geschäftsführer der CDU-Gemeinderatsfraktion Mannheim gearbeitet. Das war eine sehr intensive und erfolgreiche Zeit, an die ich mich gern erinnere. Auch Parteimitglied bin ich geblieben. Aber meine neue Position war und ist eine echte Herausforderung für mich.
Mein Chef unterstützt mein Stadtprinzen-Dasein. Er hat mich zu meiner Inthronisierung begleitet und ist auch dabei, wenn es am »Schmutzigen Donnerstag« den traditionellen Prinzessinnenempfang im Rathaus gibt. Das wird für mich sicher ein sehr emotionaler Moment, denn eigentlich stand ich immer auf der anderen Seite, wenn die Fasnachter ins Rathaus einzogen. Oder ich war gar nicht in Mannheim, denn der Donnerstag gehörte für mich traditionell der Karnevalshochburg Köln.
Die letzten Jahre bin ich mit einem guten Freund morgens im Zug in die Domstadt gefahren und habe den ganzen Tag auf der Straße gefeiert. Die gute Laune und die vielen fantasievollen Kostüme haben mir jedes Mal das Herz geöffnet. Singen, feiern, küssen und ja, auch das ein oder andere Kölsch trinken, gehörte für mich dazu. Dass dieser Ausflug 2011 ausfällt, ist bisher der einzige Wermutstropfen in der Fasnachtskampagne. Ansonsten kann ich mich nicht beschweren, schließlich kam sogar Ministerpräsident Stefan Mappus zu meinem ersten Arbeitstag als Stadtprinz.
Lebensfreude Fasnacht ist für mich Lebensfreude, aber ich will während der närrischen Tage auch an die denken, denen es nicht so gut geht. Deshalb habe ich mir ein soziales Projekt gesucht, für das ich auf den verschiedenen Veranstaltungen Spenden sammle. Ich möchte gern die Kinder und Jugendlichen der ambulanten Palliativberatung von Diakonie und Caritas unterstützen.
Ich bin kein Familienvater, aber ich mag Kinder sehr. Ich habe mich an meinen Vater erinnert, der so gerne Brücken baute und für den alle Menschen gleich waren. Er arbeitete unermüdlich am Abbau von Vorurteilen und ist damit ein großes Vorbild für mich. Als er 2001 starb, war das ein schwerer Verlust für meine Schwester und mich. Ich glaube aber, dass er stolz darauf wäre, dass seine Stadt einen jüdischen Fasnachtsprinzen hat und niemand sich daran stößt. Und bestimmt wäre er auch stolz auf mich.
Aufgezeichnet von Marion Treu.