Rosch Haschana

Hoffen und Handeln

Apfelscheiben, Granatäpfel, Honig und Schofar: Gmar chatima tova! Foto: Marina Maisel

Das neue jüdische Jahr beginnt mit Wahlen in Deutschland. Insbesondere im Bundestag werden wir neuen Gesichtern begegnen. Wir Bürgerinnen und Bürger entscheiden darüber, wer die Weichen für die Zukunft unseres Landes in den nächsten Jahren stellen wird. Aber ist das Demokratie? Ein paar Kreuzchen auf buntem Papier und anschließend die Hände in den Schoß legen und »denen da oben« beim Regieren und Opponieren zusehen?

»Wir sind das Volk«, lautet ein deutscher Schicksalssatz des 20. Jahrhunderts. Er bedeutet: Wir, jeder Einzelne kann und muss seinen Anteil leisten, um das Gesicht der Bundesrepublik Deutschland, um unser aller Zukunft mitzugestalten und zu prägen.

freiheit Deutschland wieder als Heimat zu empfinden, fiel mir nicht leicht. Es war ein langer, physisch und psychisch kräftezehrender emotionaler und rationaler Prozess. Ich habe gesehen und glaube daran, dass die Bundesrepublik Deutschland, ihre Bevölkerung und ihre politischen Verantwortungsträger einen Staat bilden, der auf einem festen Fundament im Bekenntnis zur Unantastbarkeit der menschlichen Würde und zu den Werten der freiheitlichen Demokratie basiert.

An dieser Überzeugung halte ich fest. Ich möchte aber auch spüren, dass gegenläufige Tendenzen sensibel registriert und ernsthaft bekämpft werden. Alarmsignale gab es im auslaufenden Jahr genug. In der sogenannten Beschneidungsdebatte waren jüdische Menschen mit einer ungeahnten Dimension an offenem und zum Teil zügellosem Antisemitismus konfrontiert.

Diese monatelange Verbannung an den Rand der Gesellschaft, basierend auf dem infamen Vorwurf, jenseits des Rechts die eigenen Kinder zu quälen, haben Spuren hinterlassen. Bei einigen haben die herablassenden Anfeindungen und kalten Diffamierungen alte Wunden aufgerissen. Allein das verantwortungsvolle, zügige und besonnene Handeln der Politik hat verhindert, dass sich das mitunter perfide Spiel mit dem Feuer zum gesellschaftlichen Flächenbrand ausweitete.

Schächtverbot Wer der Debatte etwas Positives abgewinnen wollte, verklärte sie zu einer wertvollen Diskussion über die Religionsfreiheit. Wenngleich ich diese Wahrnehmung nicht teile, halte ich es für dringend notwendig, den Schutz der freien Ausübung der Religion in Europa ernsthaft auf die politische Agenda zu setzen. Restriktionen wie jüngst das Schächtverbot in Polen nehmen zunehmend existenzielle Ausmaße an.

Wem an einem vitalen Judentum in Europa gelegen ist, der darf angesichts solcher Fehlentwicklungen nicht schweigen. Zumal hier wie da die juristische und politische Kontroverse von handfesten, antisemitischen Ressentiments flankiert wird, die der Mitte der Gesellschaft entspringen und rechts und links auf fruchtbaren Boden fallen.

Empathie und Sensibilität geraten außer Mode. Stattdessen boomen geistige Brandstifter, die gegen Juden oder Israel giften. Kaum war das Thema Zirkumzision – das ein einzelner Richter auf Grundlage einer juristischen Mindermeinung lostrat, die maßgeblich ein Strafrechtsprofessor, dessen Lehrmeister und eine laute Stimme im Ethikrat leidenschaftlich propagieren – vom Tisch, musste sich die Republik mit der nächsten Profilneurose auseinandersetzen. Ein Journalist und Verleger mit klangvollem Namen kam seiner wohl genetisch angelegten, moralischen Selbstverpflichtung nach, Deutschland eine Schlussstrichdebatte aufzudrängen.

Israelkritik Als tapferer Einzelkämpfer für die wahre Sicht auf die Welt – nämlich seine – postulierte er, die allzu unkritisch positive Sicht auf Israel müsse endlich revidiert werden. Obwohl längst weit und breit keine Windmühlen mehr stehen, fuchtelte der Don Quichotte des Meinungsjournalismus so ungestüm mit schärfsten Worten umher, bis seine Zuspitzungen nicht mehr ignoriert werden konnten und Niederschlag in einer Hitliste fanden. Damit aber auch wieder nicht zufrieden, setzte er sein Sticheln und Quengeln fort. Und täglich grüßt das Murmeltier. Einmal mehr wurde die ermüdende Diskussion, wann Israelkritik die Grenze zum Antisemitismus überschreite, durch die Manege des Medienzirkus geschleift.

Mir ist schleierhaft, wo die Genugtuung und die Leidenschaft entspringen, das immer gleiche, nicht existierende Tabu immer wieder zu brechen. Denn letztlich sprang der Kolumnist nur einem in seinen Augen zu Unrecht gescholtenen Nobelpreisträger zur Seite. Dieser hatte Monate zuvor nicht nur Deutschland, sondern die ganze Welt vor dem jüdischen Dämon in Staatsgestalt zu warnen versucht. Seine Anschauung blieb nicht unwidersprochen.

Den Huldigungsentzug bezeichnete der Hochbetagte als »Gleichschaltung« und stellte die Pressefreiheit in Abrede. Eine recht kühne These für einen einflussreichen Schriftsteller, der nur mit dem Finger schnippen musste, um Lyrik zweifelhafter Qualität in drei Staaten jeweils in Zeitungen zu publizieren, die zu den auflagenstärksten Blättern ihres Landes gehören und Millionen von Lesern erreichen.

Terror Auf diese Weise wird produziert, wovon sich jeder distanziert und was doch immer mehr wird: Antisemitismus und Israelfeindlichkeit. Das ist traurig und tragisch. Schließlich braucht der jüdische Staat verlässliche Verbündete. Erstmals schlugen im Jahr 5773 wieder Raketen der islamistischen Hamas und anderer vom Iran unterstützter Terrorgruppen in der Nähe der Großstädte Jerusalem und Tel Aviv ein. Die existenzielle Bedrohung der einzigen funktionierenden Demokratie im Nahen Osten war so offenbar wie lange nicht mehr. Heute, ein Dreivierteljahr später, setzen wir aber neue Hoffnung in die ersten direkten Friedensverhandlungen nach fast drei Jahren.

Hoffnung – ein ambivalenter Terminus. Der vorschnell unmäßig euphorisch begleitete »Arabische Frühling« hat endgültig seinen Illusionszauber verloren. Angesichts des blutigen Sommers steht der Westen achselzuckend vor den Trümmern seiner Träumereien. Die Zukunft der Region ist ungewiss. Mögen auch die Situationen in Syrien, Tunesien und Ägypten nicht vergleichbar sein, münden sie doch im selben Fazit: Niemand weiß, wie es weitergeht, und schlimmer noch: Niemand vermag das tausendfache Blutvergießen zu stoppen.

Kaum ist die eine Schwärmerei beerdigt, lässt sich der Westen vom nächsten Märchen aus Tausendundeiner Nacht einlullen: Kurswechsel im Iran. Der neue Präsident des Iran, Hassan Rohani, gilt als gemäßigter »Reformkleriker«. Nun ist es nicht schwer, sich »liberaler« als Mahmud Ahmadinedschad zu artikulieren. Aber wer hierin gleich einen Beleg für das glaubhafte Abwenden von der unübersehbaren atomaren Aufrüstung erkennen will, ist mehr als romantisch veranlagt.

karikaturen Aber die Sehnsucht nach guten Partnern ist nun mal groß. Ein sogar »strategischer Partner« des Westens, der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, kann nicht nur Demokratie und Wachstum. Vor allem weiß er immer, wer schuld an allem Schlechten ist. Hierzulande ahnen es manche nur. Sie äußern sich diskreter. Am besten sagt man gar nichts mehr, sondern bebildert nur noch. Oder man karikiert. Frei nach dem Motto: Man wird doch wohl noch zeichnen dürfen.

Andere nehmen für sich in Anspruch, sich doch wohl noch aufregen zu dürfen, wenn in nächster Umgebung Kriegsflüchtlinge eine Notunterkunft erhalten. Und wenn die Aufregung nicht fruchtet, wird man die Eindringlinge doch wohl noch mit Hitlergruß (ist ja seit neuestem »Kunst«) und menschenverachtenden Parolen begrüßen dürfen. Auch das: Meinungen und Bilder aus Deutschland im 21. Jahrhundert. Just in derselben Woche, da der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages seinen Abschlussbericht vorlegte. Ein Dokument, das der Bundesrepublik ein Armutszeugnis in punkto wehrhafte Demokratie ausstellt.

Über Jahre konnte ein Neonazi-Killer-Trio mordend durchs Land ziehen. Wohlgemerkt unerkannt und ungehindert aufgrund von »schweren behördlichen Versäumnissen und Fehlern« sowie »Organisationsmängeln bis hin zum Organisationsversagen bei Behörden von Bund und Ländern insbesondere bei Informationsaustausch, Analysefähigkeit, Mitarbeiterauswahl und Prioritätensetzung«, lautet der desaströse Befund. Die Verantwortlichen an den zentralen Stellen der inneren Sicherheit müssen gewährleisten, dass das Wegsehen und Verharmlosen von Verfassungsfeinden ein Ende hat – unabhängig davon, ob sie von rechtsextremistischer, linksextremistischer oder islamistischer Ideologie geleitet werden.

zivilcourage Meine eingangs dargelegte Analyse der Bundesrepublik Deutschland als Paradebeispiel für Menschenrechte und freiheitliche Demokratie hat nur Bestand, wenn die Zivilgesellschaft ihr demokratisches Handeln eben nicht auf Ankreuzen reduziert. Unsere Demokratie lebt von Zivilcourage. Sie lebt davon, dass jeder Einzelne den Staat als seine Aufgabe begreift und bereit und gewillt ist, das Seine zu leisten, damit unsere Heimat weiterhin liebens- und lebenswert bleibt. Ja, wir stehen vor richtungweisenden Wahlen – und zwar jeden Tag entscheiden wir darüber, welches Gesicht Deutschland haben soll. Hoffnung ist wichtig, doch nur Taten können sie realisieren.

Bewahren wir uns also unsere aktive Zuversicht. Das alte Jahr ist Geschichte. Möge das neue Jahr 5774 für den Staat Israel die ersehnte Zukunft in Frieden bringen und möge es für Sie, Ihre Familien und Freunde ein glückliches Jahr werden.

Schana towa – Gmar chatima tova!

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