Das Jüdische Gemeindehaus in der Fasanenstraße glich am Sonntag einem fröhlichen Bienenstock. Eltern mit Kleinkindern, Großeltern, Mittdreißiger, Teenager, Gelehrte, Diplomaten, Autoren, Künstler – sie alle waren gekommen, um gemeinsam zu lernen, zu reden, zu hören. Sowohl in den Veranstaltungsräumen als auch draußen im Foyer herrschte ein buntes Stimmengemisch aus Deutsch, Englisch, Russisch und Hebräisch. Inspirierend und vielfältig sollte er werden, der Limmud-Tag Berlin.
talmud Vor allem aber ein großes Fest. Denn an diesem Tag vollendete Rabbi Adin Steinsaltz seine Talmud-Übersetzung ins moderne Hebräisch, eine Mammutarbeit von rund 45 Jahren. Wenn das kein Grund zum Feiern ist, dachten sich die Veranstalter von Limmud Deutschland und griffen Steinsaltz’ Idee vom »Weltweiten Jüdischen Lerntag« im Limmud-Stil auf.
Von den rund 400 angemeldeten Teilnehmern waren die meisten bereits seit dem frühen Morgen da. Leuchtende Namensschildchen an der Kleidung erleichterten das Kennenlernen. Teilnehmer lächelten einander freundlich zu und ver- tieften gerade Gehörtes spätestens am Pausenbüffet in angeregten Gesprächen, während sie auf Latkes-Nachschub und frischen Kaffee warteten.
Weisheit »Ich bin zum ersten Mal hier beim Limmud. Eine tolle Erfahrung«, sagt Inga Kobritz und blättert suchend im Programmheft. Sie und ihre Freundinnen haben gerade das Podiumsgespräch mit Daniel Libeskind und Werner Hanak-Lettner über »Zukunft der jüdischen Erinnerung« angehört. Kobritz ist begeistert. »Das Jüdische Museum Berlin als Ort der Erinnerung kenne ich gut. Aber auch den berühmten Architekten dahinter zu erleben, so eine Gelegenheit bietet sich nur selten«, schwärmt die 20-Jährige.
Auf Russisch berät sie mit ihren Freundinnen, welchen Workshop sie als Nächstes wählen sollen. Gar nicht so einfach, denn es laufen zeitgleich zehn Veranstaltungen, die die jungen Frauen interessieren. Schließlich entscheiden sie sich für »Jüdische Weisheit«, einen Schiur mit Rabbiner Reuven Yaacobov von der orthodox-sefardischen Synagoge.
mikrofon Vor dem Großen Saal wartet indes Naomi Kubota darauf, dass der israelische Gesandte Emmanuel Nahshon das Mikrofon anschaltet, um von seinen Erfahrungen als »Israeli in Deutschland« zu berichten. Die junge Frau hat sich für einen Tag vom Schreibtisch losgerissen, auf dem ihre Doktorarbeit in Philosophie liegt, um sich neue Anregungen für »Geist und Seele« gleichermaßen zu holen.
Die bekam sie vor allem von dem israelischen Dichter und Gelehrten Admiel Kosman und dessen Auslegung eines Talmudtraktats. »Honi Hamaagel – Geschichte eines Gerechten«, so der Titel des Vortrags, sei für sie bislang »das Beste« am Programm gewesen. Abgesehen natürlich von der »tollen Stimmung, familiären Atmosphäre und beeindruckenden Organisation«.
Lernfestival Auch andere Teilnehmer loben den »reibungslosen Ablauf« und die Idee des Weltweiten Jüdischen Lerntags im Limmud-Format. Eine »gute Mischung aus Kultur, Politik und Religion« sei dieses »jüdische Lernfestival«, finden sie. »Schade nur, dass man für Kinderbetreuung extra zahlen muss«, wendet Benjamin Horvath ein. Doch Irina Feofanove stört das nicht. Ohnehin hat sie ihren Nachwuchs lieber im Tragesitz dabei und freut sich, dass an diesem Tag »alle Richtungen im Judentum, egal ob säkular oder religiös, liberal oder orthodox« im Jüdischen Gemeindehaus vertreten sind.
Gerade hat sie einen Dokumentarfilm über »Jüdische Werte zur Heilung der Welt« gesehen und bedauert, den parallel stattfindenden »kritischen Rückblick« von Irene Runge zu »20 Jahren Jüdischer Kulturverein« verpasst zu haben. Bot er doch außer Tipps für künftige unabhängige jüdische Vereine auch interessante historisch-soziologische Einblicke in jüdische Ost-West-Geschichte und die Anfänge jüdischer Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion.
Familiär Der Kulturverein wandelte sich vom »familiären Kulturklub« hin zum Sozialverein, indem er seit 1990 neben deutschsprachigen auch zunehmend russischsprachige Abende veranstaltete. »Wir haben den Leuten damals erste Rechts- und Sozialberatung geboten und auf politischer Ebene die spätere ›Kontingentflüchtlingsregelung‹ mit angebahnt«, erzählt Runge der kleinen Runde interes- sierter Limmud-Teilnehmer. Dass die Einwanderung das Profil der Gemeinde grundlegend verändern würde, ahnte damals noch niemand.
Ost-West Auch heute noch beobachtet Runge eine gewisse Ost-West-Teilung der Gemeinde. Nur sind es jetzt junge Israelis mit Wohnsitz in Bezirken wie Prenzlauer Berg und Mitte, die sich in der Jüdischen Gemeinde nicht aufgehoben fühlen, so ihre Erfahrung. Auch ein Jahr nach Auflösung des Jüdischen Kulturvereins hilft dessen ehemalige Vorsitzende deshalb jüdischen Neu-Berlinern aus Tel Aviv oder Chicago bei der Wohnungssuche und organisiert zweimal monatlich »Schmus-Days« in Ostberliner Kneipen, bei denen es vor allem um Kontakte und Erfahrungsaustausch geht.
Ohnehin spiegelte dieser Limmud-Tag wider, was längst den Alltag der Jüdischen Gemeinde Berlin prägt. »Das Besondere an dieser Gemeinde ist, dass sie zu 90 Prozent aus russischsprachigen Juden besteht«, brachte Emmanuel Nahshon das Phänomen auf den Punkt. Eine Tatsache, über die der Gesandte der israelischen Botschaft in Berlin noch immer die Stirn runzelt. Zwar beobachte er zunehmend einen Wandel im Selbstverständnis, weg von »Juden in Deutschland« hin zu »deutschen Juden«, nicht zuletzt in ausschließlich russischsprachigen jüdischen Gemeinden wie zum Beispiel Frankfurt an der Oder. »Das sind hingebungsvolle Leute, die viel auf die Beine stellen. Gleichwohl ändert das nichts an der Tatsache, dass sie von Deutschland dazu instrumentalisiert wurden, neues jüdisches Leben aufzubauen.«
Flügel Die Diskussion, die sich daraufhin entspann, kreiste zunehmend um Israels Image und die Identitätssuche des jüdischen Staates im Verhältnis zur Diaspora. Wichtige Themen für beide Seiten, die auch dann weiterdiskutiert wurden, als Limmud-Helfer auf der Bühne längst schon den Konzertflügel für die nächste Veranstaltung hochklappten.