Die Menschen im zertrümmerten Deutschland hatten 1945, nach dem einst von vielen zwar gutgeheißenen, nun aber verlorenen Weltkrieg, keinen Kopf dafür, nachzufragen, was mit dem Teil der Bevölkerung – mit ihren Nachbarn, mit ihren Mitschülern, mit ihren Kollegen, mit Mitgliedern ihrer Vereine – geschehen war, dessen Gotteshäuser 1938 brannten, dessen Geschäfte und Wohnungen verwüstet worden waren, der danach scheinbar plötzlich verschwunden war.
Man hatte ja angeblich nichts gesehen und nichts mitbekommen. Man musste jetzt erst einmal weiterleben und wiederaufbauen.
Zögerlich, und meist auf Privatinitiative hin, begann man, Gedenktafeln für die Verschwundenen an Häuserwänden anzubringen.
Das Bewusstwerden des Geschehenen kam erst später. Da war Deutschland bereits wiederaufgebaut. Wo vorher Synagogen standen, befanden sich jetzt Geschäfts- oder Wohnhäuser. Eine gewisse Betroffenheit stellte sich Zögerlich, und meist auf Privatinitiative hin, begann man, Gedenktafeln für die Verschwundenen an Häuserwänden anzubringen, oft mit der undeutlichen Aussage, dass hier etwas der Nazi-Gewaltherrschaft zum Opfer gefallen war.
Erst langsam entwickelte sich eine Erinnerungsbereitschaft, die die menschlichen Opfer dieser Gewaltherrschaft – es war vorwiegend die jüdische Bevölkerung Deutschlands und Europas – jedoch auf ihr erlittenes Leid reduzierte. Sie ließ unerwähnt, welch reichen Anteil Juden an der Geistesgeschichte, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, am gesellschaftlichen Leben Deutschlands und Europas hatten.
Stadtakademie Diesen Mangel auszugleichen, machte sich seit den 80er-Jahren eine Gruppe engagierter Mitarbeiter und Freunde um den damaligen Leiter der Evangelischen Stadtakademie Bochum, Pfarrer Manfred Keller, zur Aufgabe. Sie entwickelte das Konzept eines Stelenwegs zur jüdischen Geschichte Bochums von den Anfängen der Gemeinde bis zu ihrem Untergang im Holocaust und von der Entstehung einer neuen Gemeinde nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu ihrer weiteren Entwicklung.
Über die Stadt verstreut, überall, wo in Bochum jüdisches Leben stattfand, wurden mannshohe Stelen aufgestellt.
Über die Stadt verstreut, überall, wo in Bochum jüdisches Leben stattfand, wurden mannshohe Stelen aufgestellt, untereinander verbunden durch einen gleichbleibenden, wiedererkennbaren grafischen Rahmen. Ihre Vorder- und Rückseiten erzählen vom religiösen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben der Juden an dem jeweiligen Ort, ergänzt durch Zeitangaben und eine reiche Bebilderung.
Dokumentation Im Sommer 2019 brachte Manfred Keller nun ein Buch über diesen Stelenweg heraus, das die Geschichte der Juden in Bochum einerseits, die Entwicklung der Ausdrucksweisen der Erinnerungskultur andererseits und schließlich die Inhalte der Stelen in verdichteter und gut verständlicher Weise darstellt.
Das in diesem Buch Dargestellte ist problemlos auf ganz Deutschland übertragbar und macht das Buch auch überregional bedeutsam, nicht nur als Geschichtsbuch, sondern als Ideengeber für eine lebendige Erinnerungskultur, die zwei Ziele verfolgt. Einerseits will sie die nichtjüdischen Angehörigen der Mehrheitsgesellschaft ermutigen, Schuldbeladenes nicht aus der eigenen Geschichte zu verdrängen, sondern vielmehr in ehrlicher Auseinandersetzung die Grundlagen für Ursachenerkenntnis, Wiederholungsverhütung und ein verändertes Selbstverständnis zu legen.
Andererseits – und das ist gleichrangiges Ziel des Bochumer Stelenprojekts wie des vorliegenden Buches – möchte sie den zugewanderten Mitgliedern der jetzigen jüdischen Gemeinde helfen, am neuen Ort ein Zugehörigkeits- und Heimatgefühl zu entwickeln und Vertrauen zu gewinnen in die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland. Michael Rosenkranz
Manfred Keller: »Im jüdischen Bochum – Spurensuche auf dem Stelenweg«. Hrsg. von Ev. Stadtakademie Bochum. F.A. Gimmerthal, Bochum 2019, 113 S., 14,90 €