Herr Welz, der psychosoziale Dienst für Schoa-Überlebende, AMCHA, wird 30 Jahre alt. Wie wichtig ist AMCHA heute noch?
Als Überlebende des Holocaust, die als Psychologen tätig waren, AMCHA vor 30 Jahren gründeten, dachten sie, dass die Hilfe für vielleicht zehn, maximal 20 Jahre notwendig sei. In den letzten Jahren stellen wir fest, dass der Bedarf deutlich zugenommen hat. Gerade im Alter werden die Traumatisierungen belastender, weil Ablenkungen durch Arbeit, Familie oder Partner, die verstorben sind, entfallen.
Wie viele Menschen betreuen Sie und wo?
2016 sind fast 20.000 Menschen zu AMCHA gekommen. Das sind mehr als doppelt so viele wie noch zehn Jahre zuvor. Das zeigt, dass die Hilfe heute vielleicht notwendiger denn je ist. Die Betreuung durch AMCHA findet in 15 Zentren in Israel statt, unter anderem in Tel Aviv, Haifa, Beer Sheva und Sderot. Speziell dorthin kommen nicht nur Holocaust-Überlebende. Durch die Nähe zum Gazastreifen betreuen wir dort auch Menschen, die durch Raketenangriffe traumatisiert sind. Im vergangenen Jahr wurde ein neues Zentrum in Aschdod eröffnet.
Was bedeutet die Hilfe aus Deutschland?
Nach der Gründung in Israel hat AMCHA bereits 1988 sowohl in der DDR als auch in Westdeutschland einen Unterstützerkreis gefunden, der sich im Zuge der Wiedervereinigung unter dem Dach von AMCHA Deutschland gesammelt hat. Die Hilfe ist primär finanzieller Natur, aber auch moralisch und gesellschaftlich sehr bedeutend. Wenn Überlebende in Israel von AMCHA Deutschland erfahren, sind sie immer überwältigt, dass es hier Menschen gibt, die sich für ihr Schicksal interessieren. Immer wichtiger wird, dass wir von Deutschland aus die Arbeit in Israel inhaltlich begleiten. Wir haben einen Fachaustausch initiiert mit deutschen Folteropfer-Zentren, in dem AMCHA-Therapeuten mit Experten aus Deutschland zusammenarbeiten.
Zuletzt gab es die äußerst sehenswerte Ausstellung »Leben nach dem Überleben«. Welche Projekte planen Sie für die Zukunft?
Wir hoffen, die Wanderausstellung noch an weiteren Orten in Deutschland zeigen zu können, immer verbunden mit einem Begleitprogramm, in dem verschiedene Aspekte vertieft werden. Dann überlegen wir, daraus pädagogisches Material zu entwickeln für den schulischen und außerschulischen Bereich. Es geht ja nicht nur um die Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust, wir können hier auch Themen wie Emigration, Flucht sowie Gewalterfahrung, Verstecktsein oder das Ankommen in einer neuen Heimat ansprechen.
Bald wird es nicht mehr viele Schoa-Überlebende geben. Die zweite und dritte Generation rückt in den Fokus. Wie unterscheidet sich die Hilfe für diese Klienten?
Der Bedarf ist natürlich unterschiedlich. Das Durchschnittsalter der Klienten bei AMCHA liegt bei 85 Jahren. Im Alter wird die häusliche Betreuung sehr wichtig, sie nimmt derzeit etwa 31 Prozent der Hilfe in Anspruch. Auch die zweite Generation kommt langsam in das Rentenalter und beginnt, verstärkt zu reflektieren, was mit ihren Eltern geschah und wie ihr eigenes Leben durch deren Traumata beeinflusst wurde. Hierfür bietet AMCHA Gruppen, in denen man Gleichgesinnte trifft, einen Ort – wie schon in der Gründungsidee –, an dem man verstanden wird, ohne sprechen zu müssen. Die Ursachen für diese intergenerationellen Traumatisierungen liegen vor allem auf der sozialen Ebene: In der Familie werden Ängste übertragen. Das Max-Planck-Institut für Psychiatrie hat jetzt auch erforscht, dass traumatische Erfahrungen zu epigenetischen Veränderungen bei den Eltern und ihren Kindern führen können. Das heißt, Ereignisse im Holocaust können die Gene der nachfolgenden Generationen beeinflussen, die ein erhöhtes Risiko für Stresserkrankungen haben. Das könnte erklären, warum eine Angsterfahrung der Eltern oder sogar der Großeltern im eigenen Leben weiter zu spüren ist. Unsere Arbeit wird also weiter benötigt.
Mit dem Vorsitzenden von AMCHA Deutschland sprach Heide Sobotka.