Das Telefon läutet derzeit unentwegt bei Ezra in Erfurt. Dennoch meldet sich eine Frau mit einer freundlichen Stimme ziemlich schnell. »Wir haben so viele Anfragen und deshalb wenig Zeit für Pressearbeit«, erzählt die Mitarbeiterin der Beratungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Thüringen. Laut der jüngsten Jahresstatistik befindet sie sich auf einem historischen Höchststand. Mindestens 291 Menschen waren laut Ezra direkt betroffen oder wurden angegriffen. »Wir sind gerade in einer extrem bedrohlichen Zeit und schauen mit sehr, sehr großer Sorge auf die anstehenden Landtagswahlen«, betont Berater David Rolfs einen Tag später am Telefon.
Er schafft es, ein Gespräch mit der Jüdischen Allgemeinen in seinem Terminkalender unterzubringen. »Ezra ist eine aufsuchende Beratungsstelle: Wir fahren zu den Betroffenen«, sagt er. Weiter führt er aus: »Wir versuchen bestmöglich das Geschehen in Thüringen abzubilden. Dazu recherchieren wir nach Angriffen und schauen uns dazu auch die Polizeimeldungen näher an.«
In allen 16 Bundesländern gibt es eine Beratungsstelle
Es sei ein sehr vielfältiges Beratungsfeld. So stellt Rolfs seine Arbeit und die der vier weiteren Berater vor. Zusätzlich gibt Ezra die »Thüringer Zustände« heraus, die eine »faktenbasierte Darstellung und kritische Einordnung der Situation des Rechtsextremismus, des Antisemitismus und Rassismus, der Abwertung, Diskriminierung und Hassgewalt« bietet.
Vergangene Woche beispielsweise. Da geschah es in einem Workshop in Thüringen, der den Nahostkonflikt thematisierte. Als sich dort eine Person zu Wort meldete und dabei ihre Sympathie für Israel bekundete sowie antisemitische Aussagen anderer Teilnehmer kritisierte, zeigten ihr einige Anwesende das Hamas-Dreieck. Dies habe eine extreme Verunsicherung und ein Gefühl der Bedrohung bei ihr ausgelöst, so Rolfs.
In allen 16 Bundesländern gibt es mittlerweile eine Opferberatungsstelle, die ähnlich arbeitet. »Dieses Jahr verheißt nichts Gutes, die Zahlen von Vorfällen sind jetzt schon hoch«, weiß David Rolfs zu berichten. »An uns wenden sich Menschen, die aus politischen Motiven angegriffen wurden.« Dazu zählen vor allem von Rassismus und Antisemitismus Betroffene, aber auch Personen, die von Rechtsextremen als politische Gegner betrachtet werden, sowie Menschen, die zur LGBTQ-Community gehören. Selbst Journalisten geraten oft ins Visier. »Rechte Gewalt ist sehr umfangreich.«
Massiver Anstieg an Beleidigungen nach dem 7. Oktober 2023
Immer wieder suchen Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft Rat. Häufig lägen die antisemitischen Vorfälle unterhalb der Gewaltschwelle. Doch nach dem 7. Oktober musste auch Ezra einen massiven Anstieg an Beleidigungen und Bedrohungen feststellen und dokumentieren. Viele Juden hätten daraus ihre Konsequenzen gezogen und verzichteten auf das Tragen einer Kette mit dem Davidstern oder einem Chai-Anhänger. Sie möchten als Jüdinnen und Juden nicht mehr erkennbar sein, weil sie verbale oder sogar physische Übergriffe befürchten.
»Ich bin froh und dankbar, dass sich die Mitarbeiter von Ezra – auch für uns – engagieren«, sagt Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Speziell nach dem 7. Oktober 2023 sei er über ihren Einsatz froh. »Es sind Nichtjuden, die aus der Mitte unserer Gesellschaft kommen und sich kümmern.«
Als Hotspot rechter Gewalt sei in Thüringen vor allem die Kleinstadt Sonneberg in Erscheinung getreten, und zwar nachdem dort ein AfD-Politiker zum Landrat gewählt wurde. »Es ist klar, dass auch hohe Zustimmungswerte und Wahlerfolge der AfD dazu beitragen, dass sich Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt einfach normalisieren«, sagt David Rolfs.
Diese richte sich gegen politische Gegner. »Menschen, die sich bei uns in der Beratung befinden, sind oftmals extremen Anfeindungen ausgesetzt, weil sie sich gegen die AfD äußern«, meint der Mitarbeiter der Beratungsstelle.
Immer wieder suchen Menschen aus der jüdischen Gemeinschaft Rat.
Doch wie kann Esza helfen? Das Beratungsangebot sei individuell. »Für uns ist nur die Perspektive von Betroffenen wichtig. Wir gucken nicht nach Beweisen, sondern wir glauben den Betroffenen und stehen an ihrer Seite.« Sie seien ja nicht einer Ermittlungsbehörde angegliedert. Ezra biete eine psychosoziale Betreuung an, die notwendig sei, um über die ganzen Erlebnisse, die die Menschen ertragen müssen, auch sprechen zu können. Ferner stellen sich bei einem Angriff viele rechtliche Fragen. »Wir unterstützen unsere Klienten im Gerichtsprozess und in der Begleitung bei der Polizei.«
Häufig sei auch eine anwaltliche Begleitung notwendig. »Da versuchen wir auch finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, die wir durch Spendengelder akquirieren.« Die Betroffenen sollen auf keinen Fall auf den Kosten sitzen bleiben, die aus einer solchen Gewalterfahrung resultieren. Betroffene wollen häufig auch ihre Geschichte erzählen, sagt Rolfs. »Das versuchen wir natürlich sehr zu unterstützen, weil es hilfreich sein kann, das aufzuarbeiten. Natürlich ist es auch total wichtig, auf die Situation in Thüringen aufmerksam zu machen.«
Das Projekt wurde 2011 gegründet
Ezra ist Hebräisch und heißt übersetzt Hilfe. Das Projekt wurde 2011 gegründet und arbeitet seit 2012 in der Trägerschaft der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland. Finanziert wird Ezra über das Bundesprogramm »Demokratie leben!« und das Thüringer Landesprogramm für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit »DenkBunt«.
Hintergrund für die Gründung der Beratungsstelle war auch ein Anschlag auf die Erfurter Synagoge, den drei Rechtsextreme vor mehr als 20 Jahren verübten.
Ferner engagiert sich David Rolfs noch bei Veranstaltungen für Demokratie und Vielfalt. »Ich möchte den Betroffenen auch zeigen, dass es Leute gibt, die eine stabile demokratische Haltung haben. Es gibt in Thüringen viele zivilgesellschaftliche Gruppen, die gegen Rechtsextremismus arbeiten.«
Sie alle könnten nach den Landtagswahlen am 1. September neu herausgefordert werden.