Porträt der Woche

»Hier bin ich plötzlich Latina«

Eunice Dijkstra kommt aus einer sefardischen Familie und studiert europäisches Recht

von Till Schmidt  22.05.2021 23:03 Uhr

»Austausch ist mir wichtig – wie in meinem jüdisch-feministischen Lesekreis«: Eunice Dijkstra lebt in Bremen.

Eunice Dijkstra kommt aus einer sefardischen Familie und studiert europäisches Recht

von Till Schmidt  22.05.2021 23:03 Uhr

Bis ich nach Deutschland kam, habe ich mich nie als Latina begriffen. Die gesamte Region beinhaltet doch so viele unterschiedliche Traditionen und Kulturen – warum sollte ich mich da so verallgemeinernd einordnen? In Deutschland gelte ich als »Person of Color«, in Brasilien hingegen als »weiß«.

Diese Kategorisierungen begleiten mich viel stärker, seit ich in Deutschland bin. Anfangs fand ich das wirklich gewöhnungsbedürftig.
Seit 2018 lebe ich in Bremen. Inzwischen studiere ich European and Comparative Law in Oldenburg. Aufgrund der Covid-Pandemie habe ich allerdings kaum etwas vom Campus und von meinen Kommilitonen gesehen. Das finde ich wirklich schade, weil ich eigentlich mit einigen Freunden täglich aus Bremen dorthin pendeln wollte. Aber nun findet mein Masterstudium digital im Homeoffice statt.

Ich hoffe, dass es immerhin möglich sein wird, 2023 an der Rijksuniversiteit Groningen zu studieren. So ist es zumindest in meinem Masterstudiengang vorgesehen. Niederländisch lerne ich gerade auch schon.

RECIFE In Brasilien habe ich bereits meinen Bachelor in Recht absolviert. Außerhalb des Landes ist dieser Abschluss aber nicht viel wert. Damals habe ich mich auf brasilianisches Recht fokussiert, in Oldenburg kann ich meinen Schwerpunkt nun verbreitern. Ich träume davon, später für eine NGO zu arbeiten und dabei auch meine vielfältigen Erfahrungen einzubringen – als Frau, Feministin, Jüdin, als Latina und Person of Color habe ich viel Wissen gesammelt, das ich mit anderen teilen möchte.

Meine Hochzeit war bisher der schönste und zugleich traurigste Tag meines Lebens.

Geboren wurde ich in Recife, einer Millionenstadt direkt am Atlantik. Dort steht übrigens auch die erste Synagoge, die in den Amerikas gebaut wurde. Sie wird von der jüdischen Gemeinschaft noch heute genutzt. 1636 wurde sie von sefardischen Juden gegründet, die aus den Niederlanden fliehen mussten. Auch mein eigener familiärer Hintergrund ist sefardisch. Wenn mich jemand vor ein, zwei Jahren gefragt hätte: »Wo, denkst du, stehst du heute?«, dann wäre ich wohl nie auf die Idee gekommen, dass ich heute verheiratet bin und mit Nachnamen nicht mehr de Britto Oliviera heiße, sondern Dijkstra.

Mein Mann Louis ist Niederländer, wir haben uns in Bremen im Hebräischunterricht kennengelernt. Von da an ging alles sehr schnell, wir gehen gemeinsam durch dick und dünn. Im Sommer 2020 konnten wir die relativ entspanne Corona-Lage nutzen, um eine große Hochzeitsparty zu schmeißen. An Tu beAw haben wir standesamtlich geheiratet, die religiöse Hochzeit mit Freunden fand im vergangenen August statt. Wir sind Jalda Rebling unbeschreiblich dankbar, dass sie die Zeremonie geleitet und uns durch den gesamten Prozess hinweg begleitet hat. Sie ist noch heute eine Mentorin für mich, von der ich ungemein viel lerne.

Meine Hochzeit war buchstäblich der schönste und traurigste Tag meines bisherigen Lebens. Es war eine großartige, spirituelle Zeremonie, eine tolle, ausgelassene Feier, zu der viele unserer liebsten Freunde gekommen sind – mit großartigem Essen, Musik und einer Zeremonie, die durchaus traditionell war, die wir im Detail aber nach unserem Gusto selbst gestaltet haben.

SCHWIEGERVATER Gleichzeitig war die Hochzeitsfeier auch die Abschiedsparty für meinen inzwischen verstorbenen Schwiegervater. Es ist wohl typisch jüdisch, dass Trauer und Freude so nah beieinanderliegen. Ich vermisse Theo sehr! Möge sein Andenken zum Segen sein.

Jalda hat uns unter anderem dabei unterstützt, unsere Ketubba zu schreiben. In ihr haben wir unsere Ehegelübde festgehalten, über sie haben wir lange und ausführlich reflektiert. Jalda hat uns klargemacht, dass wir es sind, die entscheiden, welche Traditionen wir auf welche Weise adaptieren. Ich wollte zum Beispiel, dass es Louis ist, mein Mann, der während der Zeremonie das Glas, das von meiner Großmutter stammt, zertritt. Mit einer ausgedruckten Broschüre haben wir unseren Gästen, die ja gar nicht alle jüdisch waren, die Bedeutung und den Hintergrund der vielen Rituale und Gebräuche erklärt.

Gottesdienste besuchen wir aktuell in Delft in den Niederlanden, was etwa eine Stunde von Amsterdam entfernt liegt. Im Moment findet natürlich alles digital statt. Es ist toll, dass wir mit Hannah Nathans eine Frau als Rabbinerin haben; dass wir versuchen, das Judentum auf feministische und inklusive Weise zu leben. Indem wir etwa nicht nur den Stammvätern Awraham, Jizchak und Jakow danken, sondern auch den Matriarchinnen Sarah, Rivka, Rahel und Leah. Oder indem wir am Transgender Day of Visibility den Schabbat Trans-Personen widmen, für deren Wohlergehen wir beten. In Delft habe ich den Eindruck, mein Judentum, meine jüdische Identität, die ja nicht in Stein gemeißelt ist, entdecken und entwickeln zu können.

SCHABBAT Als Teil der liberalen Klal-Yisrael-Kongregation würde ich gerne eine Frauengruppe gründen. Einen jüdisch-feministischen Lesekreis habe ich allerdings schon in Bremen. Zusammen mit einer deutschen sowie einer amerikanisch-israelischen Freundin treffe ich mich regelmäßig zu Diskussion und Austausch. Besonders gut gefallen hat mir zum Beispiel die Autobiografie von Roya Hakakian, einer persisch-jüdischen Schriftstellerin, die nach der Islamischen Revolution im Iran in die USA geflohen ist. Ebenfalls inspirierend fand ich I’m Supposed to Protect You From All This von Nadja Spiegelman, die in diesem Buch den Frauen in ihrer Familie Tribut zollt.

Mit einer Freundin und ihrem Partner haben wir während der Pandemie die Tradition entwickelt, dass wir öfters gemeinsam und digital Kabbalat Schabbat sowie den Samstagmorgen feiern. Ohnehin bedeutet mir der Schabbat und gerade dessen Vorbereitung sehr viel. Neben den Gebeten und den Segenssprüchen liebe ich das Challa-Backen. Das ist die Zeit, in der ich für mich ganz alleine und in Ruhe bin. Später lesen Louis und ich die Parascha. Oder wir sprechen über dies und das, über die vergangene Woche, über unsere Gefühle, Stimmungen, Alltagsbeobachtungen und Erlebnisse – so wie ein ganz normales Ehepaar.

Inzwischen habe ich einige Traditionen für mich entdeckt, von denen ich früher nie dachte, dass ich sie in mein Leben aufnehme. Von Gesprächen mit anderen Frauen, aber auch von Podcasts von modern-orthodoxen Frauen aus den USA lasse ich mich gerade sehr inspirieren. Die Mikwe als Reinigungsritual nach dem Ende des Menstruationszyklus halte ich in ihrer ursprünglichen Bedeutung für frauenfeindlich. Für mich ist sie aber ein rein persönliches Symbol, das nichts mit gesellschaftlichen Erwartungen an meine vermeintliche Reinheit zu tun hat.

Ähnlich ist es auch mit dem Bedecken der Haare. Auch hier hätte ich vor Jahren nicht gedacht, dass ich das nun regelmäßig tue. Ich mache das nicht, weil irgendein Mann es von mir verlangt. Sondern weil es meine Art ist, öffentlich und symbolisch meine jüdische Identität zu zeigen. Das alles kann sich natürlich auch wieder ändern. Wichtig ist mir aber zu betonen, dass ich den Traditionen eine eigene Bedeutung gebe und sie so zu meinen eigenen, persönlichen mache. Dass in meiner religiösen und kulturellen Umgebung dieses Experimentieren und Entdecken kein Problem darstellt, ist für mich sehr wertvoll.

IDENTITÄT Es macht mir Angst, dass vor dem Hintergrund des Nahostkonflikts in diesen Tagen Antisemitismus wieder einmal lauter und direkter geäußert wird. Äußerlich bin ich als Jüdin ja erkennbar. Nicht nur wegen der bedeckten Haare. Auch meine Magen-David-Kette trage ich jederzeit mit Stolz und Selbstbewusstsein. Dass ich deswegen angriffen werden könnte, ist eine Bedrohungssituation, die ich aus Brasilien nicht kenne.

Judentum bedeutet für mich, auch immer wieder über die eigene Identität zu reflektieren. Nach Israel zu reisen, würde dazu sicherlich stark beitragen. Da ich schon so viele Leute von Israel erzählen und schwärmen hörte, würde ich mit viel Vorwissen dorthin fahren. Genau deshalb wäre es für mich aber umso wichtiger, das Land meiner Vorfahren erst einmal allein auf eigene Faust zu erkunden.

Sicherlich würde ich in Israel viele der klassischen touristischen Orte besuchen. Vor allem die religiösen Orte in Jerusalem. Aber auch Tel Aviv würde ich gerne entdecken, und das nicht nur zum Partymachen. Und dass sich in der Nähe unserer Wohnung das Bremische Bahai-Zentrum befindet, hat mich bestärkt, mir unbedingt die Hängenden Gärten in Haifa anzusehen.

Außerdem hoffe ich wirklich sehr, dass die Pandemie endlich bald vorbei ist. Und ich nicht nur wieder mehr reisen kann – denn auch unsere Hochzeitsreise steht ja noch aus –, sondern dass auch in Bremen das Leben sich wieder normalisiert.

Aufgezeichnet von Till Schmidt

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