Eine warme Meeresbrise weht in den Garten; hoch über Haifa duftet es nach frischen Orangen und Limetten – Gil Avnon ist 17 Jahre alt und entdeckt die Gerüche und Aromen des Orients: So beschreibt der Konditor heute seine erste bewusste Begegnung mit jenen Einflüssen, die ihn und seine Backkunst seither prägen. Die Familie in Israel besuchte er all die Jahre immer wieder – die Urgroßeltern kamen ursprünglich aus Königsberg, 1933 emigrierten sie auf Drängen der bereits ausgewanderten Söhne nach Palästina.
Aufgewachsen ist Avnon in Berlin-Wilmersdorf, nicht unter Haifas Sonne. Die Eltern richteten sich ein: Am Ende des Jahres stellten sie einen Tannenbaum auf und platzierten den Chanukkaleuchter daneben. Der Vater tischte Köstlichkeiten aus Israel auf, und Gil verschmolz schon damals das Preußisch-Herbe mit der sanften Sinnlichkeit der Levante.
KRAPFEN Nicht fehlen durften auf der Festtafel Sufganiot, die im Hause Avnon nach einem drei Generationen alten Rezept zubereitet wurden. Avnons Urgroßmutter hatte die Zubereitung der Krapfen einst in einem jüdischen Haushalt in Braunschweig gelernt. Seither werden zu Ehren des Tempel-Ölwunders Krapfen à la Avnon ausgestochen, gefüllt, gedeckelt und frittiert. »Ganz anders als Berliner Pfannkuchen«, erklärt Avnon. Seine Sufganiot seien »nicht so voluminös, dafür aber wesentlich schmackhafter«.
Heute steht Gil Avnon in seiner im Oktober neu eröffneten Pâtisserie in der Schlüterstraße in Berlin-Charlottenburg und zeigt stolz auf die Törtchen in der Vitrine. Er scherzt mit den Kunden, lädt zu Food-Tastings und tüftelt immer wieder neue Köstlichkeiten aus. Der 50-Jährige sprudelt über vor Ideen. »Das Limettentörtchen entsprang meiner Erinnerung an die Gärten in Haifa«, erzählt er und zeigt auf das Gebäck in der Vitrine.
Es ist keine simple »Tarte au Citron«, die sich hier neben »Trüffelschnitten« und »Jaffa-Törtchen« reiht, sondern eine Tartelette mit der Raffinesse der Limetten – auf der geschmeidigen Creme wellt sich ein luftiges Baiser, dessen Spitzen sich goldbraun in die Höhe recken. Avnon kennt die Verführungskraft seiner Kreationen, die er wie Schmuckstücke in der Auslage präsentiert. Dennoch ist er kein lebensferner Elfenbein-Pâtissier, der sich an den eigenen Süßigkeiten ergötzt und dabei den Gast aus dem Blick verliert.
Im Kiez fühlt er sich auch als Jude endlich angekommen.
Avnons Können speist sich aus vielen Welten: In London, Singapur, Zürich und Berlin war er Chef der Pâtisserie in renommierten Häusern, darunter im Adlon und im Kempinski. Disziplin, präzise Abläufe und Neugier auf andere Kulturen hat er verinnerlicht.
Hieß in London die Devise »110 Prozent«, entdeckte der Pâtissier in Asien Yuzu, eine Zitrusart, die nun auch Bestandteil seiner Sufganiot-Kreationen ist: Tiurma, indonesisch für Sonnenschein, heißt der Krapfen, der mit Aprikosen-Yuzu gefüllt und mit Schokoladenglasur überzogen ist. Grüntee, Matcha und Zibetfrucht, asiatische Aromen, mit denen der Pâtissier auf seinen Stationen in Hotelküchen weltweit experimentierte, paart er gern mit westlichen Klassikern.
Und hier, in seiner Pâtisserie, fühlt er sich nun angekommen. Und findet endlich innere Ruhe. Das war nicht immer so. »Es hat lange gedauert«, sagt der 50-Jährige. Denn in den 30 Jahren internationaler Erfahrung ist Avnon auch immer wieder als Jude beleidigt worden – auch in namhaften Hotels.
KIEZ »Es ist erschreckend, wie weit verbreitet antisemitische Stereotype sind und wie leichtfertig Menschen im Alltag judenfeindliche Sprüche reißen«, sagt er. Avnon, der beide Pässe besitzt, den deutschen und den israelischen, sagt, nur in Tel Aviv fühle er sich frei – und jetzt hier im Kiez.
»Meine Mutter war anfangs beunruhigt, als sie sah, dass mein Name am Schaufenster steht. Doch ihre Befürchtungen haben sich zum Glück nicht bestätigt – das Gegenteil ist eingetreten«, erzählt Avnon. Jüdische Berliner, Israelis, Nachbarn – sie alle kommen gern in die Pâtisserie und freuen sich, wenn er ein paar Worte Hebräisch mit ihnen spricht und ihnen gelatinefreie Törtchen empfiehlt. »Hier bin ich Gil mit G, hebräisch ausgesprochen, und muss mich nicht verstellen als Gil, mit weichem französischen G«, sagt er froh.
Jüdische Berliner, Israelis, Nachbarn – sie alle freuen sich, wenn er ein paar Worte Hebräisch mit ihnen spricht und ihnen gelatinefreie Törtchen empfiehlt.
Seit mehr als 20 Jahren arbeitet Avnon mit dem französischen Schokoladenhersteller Valrhona. Nicht alle Kunden seien von Hochprozentigem zu begeistern, ihm komme es aber darauf an, auch Zögerliche mit neuen Geschmacksrichtungen vertraut zu machen. Deshalb nimmt er sich auch hellerer Töne an. Den sanften Grundton einer brasilianischen, doppelt mit Passionsfrucht fermentierten Schokolade mit 55 Prozent Kakaoanteil etwa bringt er mit gelber, fast konfierter Paprika und Honig zu einem schillernden Ausdruck.
Fast alles ist möglich in Avnons Fantasie. Und dennoch: Effekthascherei ist sein Ding nicht. Ein Hauch Tradition sei ihm lieber. Und schon schwelgt er in Erinnerungen an die Pfannkuchen seiner Mutter.
APFELSINENCREME Das traditionelle Chanukka-Gebäck interpretiert Gil Avnon auf berlinerisch-sefardische Art. Neben dem Klassiker mit Pflaumenmus und Puderzucker sowie asiatisch inspirierten Yuzu-Sufganiot serviert er zu Chanukka auch eine orientalisch anmutende Variante: gefüllt mit Apfelsinencreme und einer betörend nach Rosen und Orangen duftenden Glasur – die an die Farben und Düfte Haifas erinnert.