Integration

Heimat trägst du in dir

Boris Kogan sitzt mit bedächtiger Miene am Tisch und hält Fotos aus längst vergangenen Tagen in der Hand. Einige zeigen den 84-Jährigen als jungen Ingenieur im Zinn-Forschungsinstitut in Nowosibirsk, andere die Familie unmittelbar vor der Abreise nach Deutschland. Das Jahr 1998 ist noch gut lesbar. »Wir hatten keine großen Erwartungen«, sagt Boris. »Weniger Antisemitismus, das vielleicht schon, und eine bessere Zukunft für die Jüngeren.« Seine Tochter Olga, eine studierte Germanistin, hatte, nachdem die Lebensverhältnisse in Nowosibirsk immer chaotischer geworden waren, beim deutschen Konsulat in Moskau die Ausreise für die ganze Familie beantragt.

Das Schicksal führte die Kogans ins sächsische Chemnitz, am Anfang für sie, die immerhin eine Millionen-Stadt mit eigener Metro, Opernhaus, Ballett und einem riesigen Wissenschaftskomplex gewohnt waren, doch ein kleiner Schock. »Ich sehe vor mir noch die vielen grauen, unsanierten Häuser, ganz so, als wäre der Krieg hier erst gestern zu Ende gegangen«, erinnert sich Olga Kogan.

Knapp 20 Jahre später wirkt sie dagegen fast lokalpatriotisch, verweist auf eine florierende Künstlerszene, die international renommierte Universität und ein unkompliziertes Alltags-Miteinander. Olga streichelt der Hauskatze über ihr Fell, erzählt begeistert vom Chemnitzer Kulturkaufhaus Tietz, der berühmten Villa Esche und den Tagen der Jüdischen Kultur. Ihr Geld verdient die 59-Jährige heute als Deutschlehrerin – für Migranten.

Kosmopolitisch Weltoffen und unbefangen tritt auch Olgas 33-jähriger Sohn Ilja auf, den Freunde leicht frotzelnd einen »jüdischen Kosmopoliten mit konservativen Ansichten« nennen. Die Familie muss heute noch darüber lachen, wie der damals Zwölfjährige nach der Ankunft in Chemnitz darauf bestand, das Gymnasium mit Aktentasche und Schlips zu betreten. »Das habe ich dann lange durchgehalten«, erinnert sich Ilja, »auch wenn es mich zum Exoten gemacht hat.«

Exotisch fiel dann nicht nur die konservative Kleidung, sondern ebenfalls sein Berufswunsch aus: Ilja wollte unbedingt Paläontologe werden, anderes kam für ihn nicht in Betracht. Tatsächlich promoviert der junge Mann heute an der Bergakademie Freiberg über fossile Fische der Triaszeit. Freie Abende gehören der Familie und der Kunst. Und dann sind da noch drei Chemnitzer Vereine, für die Ilja Zeit, Energie und kreative Ideen aufbringt – die Begegnungsstätte Schalom, der Künstlerverein Beseder und der jüdische Kulturverein Atid. Nein, das sei kein »Hyperaktionismus«, beteuert er, sondern eine Entscheidung des Herzens.

Israelwissenschaften Gleicht das Kogansche Wohnzimmer einer kleinen Galerie, so ähnelt das von Familie Giwerzew in Berlin-Schöneberg einer schmucken Mini-Bibliothek. In der filigranen dunklen Anbauwand reihen sich Enzyklopädien, Kunstbände, russische und deutsche Klassiker. Irgendwie dazwischen hat es auch Henryk M. Broder geschafft. »Den lieben unsere Kinder besonders«, lacht Religionslehrerin Julia, die seit Jahren an der Galinski-Grundschule unterrichtet. Ihre 17-jährigen Zwillingskinder Lola und Nathan, geboren in Bremen, stehen kurz vor dem Abitur, wollen studieren und bald nach Frankreich und Israel reisen.

Vor allem Lola ist häufig unterwegs mit ihren Freundinnen, die »eher iranische, polnische, tunesische Wurzeln haben als urdeutsche«. Sie interessiert sich für Theater und Pädagogik, Nathan für Politik und Geschichte. Wenn die Familie zusammen beim Abendbrot sitzt, gibt es viel zu bereden – und meist auf Russisch. Das erst recht, wenn die Großeltern zu Besuch kommen oder gemeinsame Ausflüge anstehen.

Lola und Nathan kennen die Flucht- und Migrationsgeschichten ihrer Eltern und Großeltern nur aus Erzählungen: Sie haben vom Alltagsantisemitismus in Kiew ebenso gehört wie von der Pogromstimmung in Duschanbe und den Nächten im Luftschutzkeller von Kiryat Schmona, und schließlich der Liebesgeschichte ihrer Eltern, die Anfang der 90er in der Anhaltinischen Hauptstadt Magdeburg beginnt.

Berlin wurde dann zum Fixpunkt und Lebenselixier der Eltern – die Stadt, in der Ehemann Sascha ein Technikstudium aufnahm und Julia sich zwar nicht in Paläontologie, aber doch einem anderen »Exotenfach« einschrieb: den Israelwissenschaften an der Humboldt-Universität. »Ich hatte 1993 kaum einen Schimmer davon, was ich mit diesem Studium später tun würde«, gibt Julia zu. »Aber ich habe das mit Leidenschaft studiert, und es war genau während dieses Studiums, dass ich zum ersten Mal begriffen habe: Dieses Land hat sich radikal gewandelt, und es gibt ein echtes und aufgeschlossenes Interesse am Judentum und an Israel.«

Heimspiel Mit neuem Judentum wurden Julia und Sascha später auch von den eigenen Kindern überrascht. Für ihre gemeinsam geplante Bar- und Batmizwa-Feier hatten sich die Zwillinge den von Rabbinerin Gesa Ederberg geleiteten Egalitären Minjan in der Synagoge Oranienburger Straße selbst ausgesucht. Ein paar Tränen standen dort auch den Großeltern in den Augen, die allesamt nach Berlin nachgezogen waren.

Julias Vater Avraham, inzwischen weit über 70, ist jede Woche an mehreren Tagen unterwegs: Zum einen hilft er, der einstige Haupttechnologe aus Duschanbe, im Berliner Technik-Museum bei der Restaurierung alter Passagierflugzeuge. Zum anderen unterstützt er einen Verpflegungspunkt für Bedürftige und Flüchtlinge, den eine lokale Kirchengemeinde in Spandau betreibt »Als wir in Deutschland ankamen«, erinnert sich Avraham, »war es meine größte Sorge, dass die Familie ein sicheres Dach über den Kopf bekommt. Diese teilt jeder Migrant, und das habe ich bis heute nicht vergessen.«

Keine 20 Kilometer entfernt, im Potsdamer Vorort Babelsberg, hat Michail Tkach mit seiner Frau Bella vor 15 Jahren ein neues Zuhause gefunden. Auch er brachte aus der früheren Sowjetrepublik Ukraine eine hohe technische Begabung mit, ablesbar an einem Dutzend wissenschaftlicher Patente. »Natürlich hätte ich gern noch im ingenieurtechnischen Bereich weitergemacht«, erinnert sich Michail, »aber mit Anfang 60 war das illusorisch.«

2001 kam das Ehepaar nach Potsdam und verliebte sich auf Anhieb in die Stadt an der Havel. »Uns gefielen die Parks, die Seen, die Übersichtlichkeit der Stadt und sehr schnell auch die Menschen, selbst wenn die sprachliche Verständigung zunächst schwierig war«, erzählt Michail. In der Jüdischen Gemeinde Potsdam haben die Tkachs dagegen ein »linguistisches Heimspiel« – hier wird ausschließlich Russisch oder Ukrainisch gesprochen. Gleich nach der Ankunft sind Michail und seine Frau hier Mitglied geworden, und seit 2009 leitet er selbst die Kehilla. »Ich bin Sternzeichen Waage«, sinniert der 77-Jährige kurz, »das hilft mir bei dieser Aufgabe. Ich möchte mich selbst, aber auch mein Umfeld, so gut es eben geht, im Gleichgewicht halten.«

Zufall Dass seine Tochter Vlada (44) inzwischen ebenfalls in Deutschland lebt, hat allerdings weniger mit Familienzusammenführung, als vielmehr mit den Wechselfällen des Lebens zu tun. Vlada hatte sich sogar lange Zeit nicht wirklich vorstellen können, einmal hier zu leben, schon allein aus historischen Gründen. »Mit meinem japanischen Mann habe ich zusammen in London gelebt, dann in Barcelona. Frankfurt am Main ergab sich eher durch Zufall«, erklärt sie. »Takashi arbeitet hier für Nintendo, ich selbst bin für eine Consulting-Firma und als Journalistin tätig.« Inzwischen hat sich ihre innere Distanz zu Deutschland deutlich verringert, während die zwölfjährige Tochter Hana – die japanische Schreibweise für Hannah – ihrerseits den jüdischen Wurzeln ihrer Familie auf die Spur gekommen ist.

»Im Ethik-Unterricht unserer Schule haben wir das Judentum behandelt, das hat mich fasziniert«, berichtet Hana. »Als wir dann einen Text über koscheres und nichtkoscheres Essen besprachen, habe ich Großvater konsultiert. Der hat sich riesig gefreut, und dann hat das Lernen gleich noch viel mehr Spaß gemacht.« Aus den Lerneinheiten über jüdische Religion wurde bald auch jüdischer Religionsunterricht, und im Dezember 2015 konnte Hana schließlich ihre Batmizwa feiern – und zwar in Potsdam!

Neuanfang »Das war religiös beeindruckend, aber auch ein schönes Familienfest«, erzählt Vladas Bruder Mark (55), der seit 2001 wie die Eltern ebenfalls in Potsdam wohnt. Er ist ausgebildeter Chemiker und Ingenieur, hat Jahre als Jazzmusiker in Bulgarien verbracht, sich zum Betriebswirt fortgebildet und schließlich, mit 35 Jahren, den Neuanfang in Deutschland gewagt.

»Mitte 30 ist so ein Alter, wo man nicht mehr nach den Sternen im Himmel greifen will, einem aber noch einige Türen offenstehen«, meint Mark. Und quasi vom ersten Tag an arbeitete er als Betriebswirt in einer Kanzlei in Potsdam-Babelsberg. Im Umgang mit Kollegen und Kunden hat er schnell die kulturellen Codes begriffen, die die deutsche Gesellschaft prägen. »Ich finde diese eigentlich sympathisch«, bekennt Mark, »im Vergleich zu dem, was ich in der Ukraine erlebt hatte, sowieso. Aber ich hatte auch grundsätzlich viel Freude daran, mich auf neue Dinge einzulassen.«

In der Jüdischen Gemeinde ist Mark weniger aktiv als sein Vater Michail. Was ihm wiederum am Judentum wichtig ist, beschreibt er eher in philosophischen Kategorien: »Jüdisch zu leben und zu handeln, das hat für mich viel mit generellen Lebenseinstellungen zu tun – etwa mit der Art, wie ich Menschen begegne und meine Arbeit verrichte.«

Seine einstige Heimat Kiew hat Mark nur noch selten wiedergesehen, Sehnsucht zurück empfindet er eher nicht. »Heimat, das ist doch eher, was du an Wertvollem in dir trägst, und das ist weniger abhängig vom Ort«, konstatiert er. »Natürlich ist es schön, die alten Freunde aus Kiewer Zeiten immer mal wieder zu sehen, aber das kann auch genauso gut in Berlin oder Haifa passieren.«

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