Die deutsche Wiedervereinigung vor 23 Jahren hat auch das hiesige jüdische Leben tiefgreifend verändert. Durch den Zuzug von Juden aus der früheren Sowjetunion ist die Mitgliederzahl der Gemeinden rasant gewachsen – und das jüdische Leben vielfältiger geworden. Doch sind die jüdischen Zuwanderer in Deutschland auch wirklich zu Hause? Trauern sie ihrer alten Heimat nach? Und wie denken sie über den Tag der Deutschen Einheit?
»Russin oder Deutsche? Jüdin!«
Das Wort »Heimat« bedeutet für mich Verbundenheit, ein Ort, an dem ich mich wohlfühle und mit dem ich mich identifizieren kann. Dieses Gefühl habe ich vermutlich am ehesten, wenn ich an Deutschland denke. Ich kann das nicht mit Bestimmtheit sagen, meinen Zustand empfinde ich als ein bisschen kompliziert: Ich komme aus Russland, bin aber keine Russin mehr. In Deutschland lebe ich schon seit elf Jahren, habe aber leider noch nicht die deutsche Staatsbürgerschaft. Wenn mich also mal wirklich jemand fragen würde: »Eliza, was bist du denn nun? Russin oder Deutsche?«, dann würde ich am liebsten antworten: »Ich bin Jüdin!« Diese Antwort gefällt mir am besten. Den Tag der Deutschen Einheit begehe ich nicht wirklich. Es ist halt ein Tag, an dem jeder frei hat. So auch ich.
Elizaveta Shumunova, Kassel
»Dankbar und frei«
Der Tag der Deutschen Einheit ist für mich ein sehr wichtiger Feiertag. Wo wären wir Kontingentflüchtlinge heute ohne die Wiedervereinigung? Dass wir in Deutschland leben können, haben wir den Ereignissen rund um den 9. November 1989 zu verdanken! Heimat bleibt für mich jedoch der Ort, an dem ich geboren wurde und aufwuchs. Und das ist und bleibt nun einmal Mogilev in Weißrussland. Dort war das Leben in der Nachkriegszeit zwar sehr hart. Trotzdem habe ich mich immer wohlgefühlt. Von meiner Familie bekam ich viel Wärme und Zärtlichkeit, das hat die schwierigen Lebensumstände wieder wettgemacht. Inzwischen fühle ich mich aber auch in Deutsch- land heimisch – zumindest ein bisschen. Das hat auch damit zu tun, dass ich in der Bundesrepublik ein Mensch von vielen mit unterschiedlichen Herkunftsländern bin. In Russland dagegen fühlte ich mich immer als »die Jüdin«. Noch heute ist es so, dass mich in Russland jeder als Jüdin beleidigen kann. Das wiegt schwer.
Raisa Pazovskaya, München
»Meine Heimat gibt es nicht mehr«
Als ich mich kürzlich bei Facebook angemeldet habe, sollte ich mein Heimatland angeben. Ich wusste nicht, was ich da schreiben soll. Ich bin geboren in der Sowjetunion, aber die gibt es nicht mehr. Als Teil der Russischen Föderation fühle ich mich auch nicht. Seitdem ich im Jahr 1991 von Moskau nach Deutschland gekommen bin, war ich nicht mehr dort. Israel ist mir als Jüdin natürlich sehr wichtig. Ich besuche das Land gerne, aber Heimat ist es für mich ebenfalls nicht. Mit Heimat ist es bei mir also problematisch. Wo ich mich wohlfühle, das ist mein Haus: zwischen all den kleinen Dingen wie Fotos und vor allem meinen Büchern. In meiner Kindheit waren wir mit meinem Vater oft in Buchläden. Wenn ich heute einen Buchladen oder eine Bibliothek betrete, ganz egal wo, dann fühle ich mich dort sofort wohl. Ich liebe auch Deutschland, die Kultur, die Landschaft und die Menschen. Aber ich kann nicht sagen, dass Deutschland meine Heimat wäre. Meine Heimat existiert in meinem Herzen, in meiner Seele. Zurück zu dem Ort und in die Zeit meiner Geburt, meines Studiums und meiner ersten Arbeit kann ich nicht.
Tanya Smolianitski, Duisburg
»Ein ganz normaler Tag«
Ich mag mein Herkunftsland, die Leute und die Kultur. Mit der Ukraine im Allgemeinen verbindet mich zwar nicht mehr so viel. Dafür aber umso mehr mit Czernowitz, wo ich geboren wurde. Diese Stadt war und ist immer noch ganz anders als der Rest des Landes. Noch heute wird Czernowitz manchmal »Klein-Israel« genannt. Verbindung zur Ukraine halte ich unter anderem über den Fußball: Ich unterstütze mehrere ukrainische Vereine. Wenn sie in Deutschland spielen, fahre ich mit Freunden dorthin und schaue mir die Begegnungen an. In Deutschland fühle ich mich zu Hause, das Land hat es mir ermöglicht, dass ich in Europa aufwachsen kann und nicht mehr im tristen Osteuropa leben muss. In der Ukraine hätte ich mich nicht so entfalten können wie hier. Der Tag der Deutschen Einheit ist für mich dennoch ein ganz normaler Tag. Er bedeutet mir nicht viel. Ich mache mir mehr über die Konsequenzen der Wiedervereinigung für die Gegenwart Gedanken: Den Solidaritätszuschlag halte ich zum Beispiel für verkehrt. Seine Zeit ist abgelaufen. Ich sehe nicht ein, warum die Bürger in den West-Bundesländern immer noch für den Aufbau im Osten zahlen müssen.
Alexander Stoler, Frankfurt am Main
»Hier wurde uns geholfen«
Der Ort, an dem man geboren wurde und seine Kindheit verbrachte, wird einem immer sehr wichtig sein. Er ist und bleibt ein Stück Heimat. Trotzdem fällt es mir schwer, die Ukraine als meine Heimat anzusehen, weil da alles so schwierig ist. Jetzt ist eben Deutschland meine Heimat – und ich bin diesem Land sehr dankbar. Meinem Mann und mir wurde hier medizinisch geholfen; meine alte Tante, die fast 100 Jahre alt ist, kann bei uns leben. Deutschland ist in meinem Herzen – ich bin jedes Mal stolz, wenn ich sagen kann: »Ich wohne in München«. Und am Tag der Deutschen Einheit freue ich mich einfach mit. Es ist gut, dass der Osten und der Westen Deutschlands wieder eins sind und dass es die DDR nicht mehr gibt. Dort war es wie bei uns in der Ukraine vor der Perestroika.
Minna Roytman, München
Aufgezeichnet von Zlatan Alihodzic, Katrin Diehl und Canan Topçu