Porträt der Woche

Hauptsache gemeinsam

Inna Shames ist Sozialarbeiterin und gründete in Kiel ein interkulturelles Familienzentrum

von Gerhard Haase-Hindenberg  25.10.2021 09:10 Uhr

»Bei Besuchen bei meiner Familie treffen orthodoxes und liberales Judentum aufeinander«: Inna Shames lebt in Kiel. Foto: Uwe Steinert

Inna Shames ist Sozialarbeiterin und gründete in Kiel ein interkulturelles Familienzentrum

von Gerhard Haase-Hindenberg  25.10.2021 09:10 Uhr

Bis zu meiner Einschulung hieß ich Sina. Diesen Namen hatte meine Oma ausgesucht, nach deren Vater Sinori. Dann hat sich meine Mutter überlegt, dass ihr der Name nicht so gut gefällt, und sich für Inna entschieden, einen dieser modernen Namen, wie sie damals bei uns in Usbekistan aufkamen. Den hat sie nachträglich in die Geburtsurkunde eintragen lassen.

Vor einigen Jahren war dann mein Sohn der Meinung, dass seine Mutter auch noch einen jüdischen Namen haben müsse. Wir waren gemeinsam mit meiner Tochter in Israel, und an der Klagemauer sollte ich diesen Namen bekommen. Wir standen dort, wo Frauen und Männer zusammenstehen dürfen, und er rief auf Hebräisch laut in die Menge, dass er einen Minjan brauche.

kotel Da es Pessach war, sind sehr viele Juden an der Kotel gewesen. Plötzlich strömten sie aus allen Richtungen herbei. Am Ende kamen mehr Leute zusammen, als überhaupt nötig waren. Es war für mich ein sehr beeindruckendes Erlebnis. Seither trage ich auch noch den Namen Jochebed Rina.

Seiner Schwester, also meiner Tochter, hat er auch einen jüdischen Namen gegeben. Sie ist im Gegensatz zu ihrem orthodoxen Bruder allerdings nicht sehr religiös. Dass er sich stärker der Religion zugewandt hat, mag daran liegen, dass er die letzten Jahre vor dem Abitur die Jüdische Oberschule in Berlin besuchte und abendliche Kurse bei Yeshivat Beit Zion, dem Lehrhaus der Lauder Foundation, belegte, in deren Wohnheim er lebte. Danach studierte er Business Administration an der Yeshiva University in New York.

Meine Tochter hingegen, die ein paar Jahre älter ist, war noch in Usbekistan zur Schule gegangen und studierte dort auch die ersten Semester an der Uni. In Taschkent war das. Dorthin war meine Familie während des Krieges aus der Ukraine evakuiert worden.

Erst hier wurde mir klar, warum meine Eltern in Usbekistan Milch und Fleisch trennten.

Zu sowjetischen Zeiten hat niemand von uns offen die jüdische Religion praktiziert. Das war jahrzehntelang sehr gefährlich. Erst später in Deutschland ist mir klargeworden, weshalb in meinem elterlichen Haushalt ein Brett für Fleisch und ein anderes für Käse genommen wurde und warum es einen speziellen Topf nur für Milch gab. Inzwischen weiß ich, dass damals auch Schabbat und verschiedene jüdische Feste gefeiert wurden, ohne dass man sie benannt hat.

Der Umstand, dass ich jüdisch bin, ist mir erst aufgefallen, als ich einmal in unser Klassenbuch schaute. Da stand hinter allen meinen Mitschülern deren Nationalität: Russen, Usbeken, Tartaren und bei mir als Einziger eben: Jüdin. Als ich meine Eltern fragte, spielten sie das herunter. Wir würden alle zum sowjetischen Volk gehören. Das sahen die Angestellten im benachbarten Lebensmittelgeschäft offenbar nicht so. Als ich schon älter war und dort einkaufen wollte, wurden alle anderen Kunden bevorzugt. Als ich mich beschwerte, sagten sie: »Kauf doch in Israel ein!«

ZWST Im Jahr 2002 kam ich mit meinem Mann und den beiden Kindern in ein Aufnahmelager für jüdische Kontingentflüchtlinge in Neumünster. Von einer sehr netten Frau, die für unsere Integration zuständig war, haben wir wertvolle Tipps bekommen. Da wir dem Bundesland Schleswig-Holstein zugeteilt wurden, empfahl sie uns, nach Kiel zu gehen. Dort gebe es gute Schulen für den Sohn und eine renommierte Universität für die Tochter, die dann aber an der Jacobs University in Bremen studierte.

Ich meldete mich bei der Jüdischen Gemeinde, was zunächst weniger religiöse als vielmehr praktische Gründe hatte. Es gab dort nämlich eine Sozialabteilung mit russischsprachigen Mitarbeitern. Um deren Hilfe in Anspruch nehmen zu können, bin ich Gemeindemitglied geworden. Wie würde es mit mir weitergehen? In Usbekis­tan hatte ich Musikwissenschaften, Kunstgeschichte und Musik mit Schwerpunkt Klavier studiert.

Der Umstand, dass ich jüdisch bin, ist mir erst aufgefallen, als ich einmal in unser Klassenbuch schaute.

Nach meiner Promotion arbeitete ich an der Pädagogischen Hochschule, wo ich interaktive Lernmethoden alternativ zu den herkömmlichen didaktischen Unterrichtsformen entwickelte. Gemeinsam mit einer pädagogischen Leiterin habe ich hierfür ein Bildungszentrum für Lehrkräfte und Uni-Dozenten gegründet. Eine Tätigkeit in dieser Richtung schwebte mir nun auch in Kiel vor. Hierfür lernte ich zunächst Deutsch und absolvierte danach ein Ergänzungsstudium für »Interkulturelle Kompetenzen« und – von der ZWST unterstützt – eines zur Sozialbetriebswirtin.

SCHABBAT-SETS Schon während meines Ergänzungsstudiums habe ich bei der Arbeiterwohlfahrt angefangen, als Sozialarbeiterin zu arbeiten. Bald spürte ich, dass ich ohne Musik, Kunst und Kultur nicht leben kann. Also habe ich daneben im Rahmen der Jüdischen Gemeinde Kiel ehrenamtlich verschiedene Initiativen ins Leben gerufen.

Unter dem Dach des von mir geleiteten Familien-Integrationszentrums »KulturPalette« entstand ein umfangreiches Angebot an pädagogischen, kulturellen, sozialen und integrativen Aktivitäten. Angefangen bei den Kleinen, denen in einem Märchenprojekt spielerisch vermittelt wird, dass in verschiedenen Kulturen ähnliche Werte bestehen, wir also einander eher ähnlich als unterschiedlich sind.

Das Jugendmusical-Projekt mit dem Titel »Menschen etikettenlos« wendet sich gegen allerlei Vorurteile. Die Teilnehmer nehmen im Spiel verschiedene Rollen ein, entwickeln Empathie, Verständnis und Toleranz. So werden auch die Ursachen für Mobbing deutlich. Für die Senioren gibt es schon seit 2008 den Chor »Nordlicht«, der mit seinem umfangreichen Repertoire viele Auftritte im weiteren Umland hat. Die Sänger und Sängerinnen werden dabei von mir am Klavier begleitet.

Während der Corona-Pandemie haben sich uns ganz andere Aufgaben gestellt. Viele unserer Mitglieder sind ja schon älter, und deswegen war viel zu organisieren. Da waren Gespräche nötig, von telefonischer Beratung und Seelsorge bis zur Konsultierung von Psychologen, aber auch ganz simple Dinge wie die Versorgung mit Masken und Desinfektionsmitteln. Wir haben vielfach auch Schabbat-Sets zusammengestellt, damit die Mitglieder auch in diesen schwierigen Zeiten ihr jüdisches Leben weiterführen konnten.

TASCHKENT KulturPalette heißt unser Familien-Integrationszentrum deshalb, weil sich darin, obgleich es von der Jüdischen Gemeinde organisiert wird, keineswegs nur jüdische Menschen engagieren. Wer zu den verschiedenen Kulturprojekten hinzustößt, wird nicht nach seiner Religion gefragt.

Dieses multikulturelle Verständnis entspricht meiner Biografie. Als jüdisches Mädchen bin ich im muslimischen Stadtbezirk Machalla Dzhar Kutscha in Taschkent aufgewachsen, und zu meinen Freunden gehörten damals ganz selbstverständlich auch muslimische Mädchen und Jungen. Meine Mutter, die dort als Kinderärztin arbeitete, behandelte alle sowjetischen Kinder gleich, unabhängig von der Religion und der nationalen Herkunft der Eltern.

Meine Kinder sind beide der großen Liebe wegen in die USA gezogen.

Deshalb war für mich auch die Kooperation mit JUMU (Juden und Muslime) von Anfang an selbstverständlich. Das ist eine Organisation, die sich die Zusammenarbeit und das gegenseitige Verständnis von jüdischen und muslimischen Akteuren, aber auch mit Christen auf die Fahnen geschrieben hat. Dafür bekamen wir vor zwei Jahren sogar den Förderpreis der Deutschen Nationalstiftung.

Leider konnte ich an der Verleihung durch Bundespräsident Steinmeier aus gesundheitlichen Gründen nicht teilnehmen. Neben meiner Vorstandstätigkeit in der Kieler Gemeinde betreue ich als Geschäftsführerin sechs liberale jüdische Gemeinden in Schleswig-Holstein, und inzwischen bin ich auch die stellvertretende Vorsitzende der Union progressiver Juden (UpJ) in Deutschland.

USA Meine Kinder sind beide der großen Liebe wegen in die USA gezogen. Irina, meine Tochter, hat sich nach einer beispielhaften Karriere, die sie erst bei MTV Deutschland und später in den USA bei CNN zur Vizepräsidentin gemacht hatte, in Los Angeles niedergelassen. Dort wird sie demnächst Zwillingstöchter zur Welt bringen. Mein Sohn Gedalya hatte in New York International Marketing and Management studiert, hat heute eine eigene Handelsfirma und lebt mit Frau und vier Kindern in Chicago.

Wenn wir uns sehen, treffen das orthodoxe und das liberale Judentum aufeinander, aber wir akzeptieren einander. Bei meinen Besuchen in Chicago, wenn ich etwa am Schabbat telefoniere oder eine Hose trage, sagt er immer: »Mama, du lebst dein Leben. Du darfst alles tun, was du willst. Bleib so, wie du bist! Hauptsache, du bist ehrlich und machst kein Theater.« Er ist eben auf eine sehr amerikanische Weise orthodox.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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