Armut ist nicht immer sichtbar. Erst recht nicht bei russischsprachigen Zuwanderern der jüdischen Gemeinschaft. Das verbietet ihnen ihr Stolz, ihre Würde. »Von Armut im Alter mit besonders hoher Wahrscheinlichkeit betroffen sind Zuwanderer, die vom Arbeitsmarkt nicht absorbiert wurden oder deren Erwerbszeiten in Deutschland nicht ausreichen, um einen Rentenanspruch zu begründen«, beschreibt Günter Jek, Leiter des Berliner Büros der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), die Lage. Genaue Zahlen gibt es nicht. Die Bundesagentur für Arbeit erhebt keine entsprechenden Statistiken bei Migranten.
Die jüdische Wohlfahrtseinrichtung schätzt die Zahl der Bedürftigen derzeit jedoch auf rund 30.000. Das wäre fast ein Drittel der Mitglieder in den Gemeinden des Zentralrats der Juden in Deutschland. Somit bezöge jeder Dritte aufgrund seines Umzugs nach Deutschland keine Rente und wäre im Alter auf staatliche Grundsicherung angewiesen.
Kleine Anfrage Der Grünen-Politiker Volker Beck griff in den vergangenen Jahren immer wieder die Frage auf, warum die Rentenregelung, die für Spätaussiedler gilt, nicht auch auf Kontingentflüchtlinge angewendet werden könne – jüngst wieder mit einer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung. Diese hat nun geantwortet und sich auf die Volkszugehörigkeit berufen.
Zentralratspräsident Josef Schuster bedauert die Einlassung der Bundesregierung, habe sie doch einst zugesichert, sich für den Aufbau und Erhalt jüdischen Lebens in Deutschland einzusetzen. Außerdem, so Schuster, hätten auch die Kontingentflüchtlinge oftmals deutsche Wurzeln. Ihnen sei es darüber hinaus zu verdanken, dass mit ihrer Zuwanderung seit Anfang der 90er-Jahre jüdisches Leben in Deutschland wieder aufgeblüht, ja möglich sei.
Das bestätigen auch die Zahlen der ZWST. Seit 1989 stiegen die Mitgliederzahlen kontinuierlich von rund 28.000 auf ihren Höchststand von 107.677 an. Das war vor zehn Jahren. Doch nach zwischenzeitlicher Euphorie und einer Zeit, in der jüdisches Leben im deutschen Alltag immer präsenter und sichtbarer wurde, indem Synagogen gebaut und jüdische Gemeinden wieder neugegründet wurden, scheint seit 2005 die Demografie erneut in die Gegenrichtung zu zeigen. Mit diesem Datum ist auch die Neuregelung im Zuwanderungsgesetz verbunden, die den Zuzug fast zum Erliegen gebracht hat. Die Mitgliederzahlen nehmen seitdem leicht, aber kontinuierlich ab.
Das verdeutlichen auch die monatlichen Angaben aus Düsseldorf, Köln, Frankfurt oder Stuttgart. So notiert etwa die Gemeindezeitung in Düsseldorf in der Oktober-Ausgabe dieses Jahres drei Wegzüge, sechs Austritte und zehn Todesfälle im dritten Jahresviertel. Neun Zuzügen im Oktober und November stehen neun Wegzüge, zehn Austritte und acht Todesfälle bei einer Gesamtmitgliederzahl von etwa 6850 gegenüber.
Simches Nicht sehr viel anders sieht es in Frankfurt aus. Unter Simches – zugegebenermaßen kostenpflichtige Anzeigen – wird im Zeitraum September bis Ende November die Namensgebung eines Mädchens gefeiert, es sind dagegen aber 30 Todesfälle verzeichnet. Frankfurt hatte laut ZWST-Statistik mit Stand 2014 exakt 6667 Mitglieder. In Stuttgart und den Zweigstellen der Israelitischen Religionsgemeinschaft Württembergs (IRGW) waren es im selben Zeitraum 14 angezeigte Todesfälle bei 2908 Mitgliedern.
Bedenkliche Zahlen, die sich auch der allgemeinen Statistik der ZWST entnehmen lassen. So erreichten die Zentralratsgemeinden neun Jahre nach dem Höchststand 2005 jetzt nur noch 100.437 Personen. Das waren 901 Personen weniger als ein Jahr zuvor. In 102 von 107 Mitgliedsgemeinden überstieg die Zahl der Abgänge durch Tod oder Abwanderung die Zahl der Neuzugänge. Nur in Brandenburg (+10), in Frankfurt am Main (+18), München (+3), Nürnberg (+40) und Schleswig-Holstein (+18) verzeichnete die ZWST mehr Zu- als Abwanderungen. Insgesamt sind es 1828 Zugänge gegenüber 2625 Abgängen.
Alarmierend dabei ist die Altersstruktur. Nur 21 Prozent der Gemeindemitglieder sind 30 Jahre und jünger. 45 Prozent jedoch sind älter als 61 Jahre, in absoluten Zahlen heißt das, dass im vergangenen Kalenderjahr 56.984 Gemeindemitglieder älter als 61 Jahre waren. Hinzu kommt die Gruppe der 51- bis 60-Jährigen, die allein 14 Prozent ausmacht.
Angebote »Vor dem Hintergrund der zunehmenden Überalterung wird es auch zukünftig das Anliegen der ZWST sein, attraktive und zielgerechte Angebote für die älteren Gemeindemitglieder zu schaffen«, heißt es in der Zusammenfassung der Mitgliederstatistik der jüdischen Gemeinden 2014 der ZWST. Und mit der Überalterung geht auch zunehmende Altersarmut einher.
»Armut in einer Wohlstandsgesellschaft bedeutet ein Leben unterhalb des sozialkulturellen Existenzminimums und ist Ausdruck sozialer Ungleichheit«, betont Günter Jek. »Mit der geringen Kaufkraft einher geht eine Verdrängung in schlecht erschlossene Randwohnlagen ohne fußläufige Einkaufsmöglichkeiten und kulturelle Angebote.« Dies alles führe zu einer Ausgrenzung älterer Migranten. »Das wird sicherlich eine der kommenden Herausforderungen jüdischer Sozialarbeit sein, diese drohende Isolation abzumildern«, beschreibt Jek die Aufgaben der ZWST in den nächsten Jahren.
Die Hälfte der rund 57.000 Gemeindemitglieder über 60 Jahre wird in wenigen Jahren auf staatliche Transferleistungen angewiesen sein, wenn es nicht bald gelingt, eine Rentenregelung für Zuwanderer zu erreichen. Die betroffenen Gemeindemitglieder verstehen es zwar, den Euro dreimal umzudrehen, bevor sie ihn ausgeben – doch ein würdevolles Leben im Alter ist mit 399 Euro für Alleinstehende und jeweils 360 Euro für Eheleute schwer zu meistern.