Eigentlich hätte es die Schomrim, die »Wächter«, nie wieder in Deutschland geben sollen. Nach der Gründung Israels 1948 legte sich der jüdische Pfadfinderverband Hashomer Hatzair (Hebräisch: »Der junge Wächter«) fest: Eine Rückkehr ins Land der Täter ist ausgeschlossen.
Schließlich kam es anders. Dieses Jahr feiert der Berliner Ableger der Jugendorganisation, »Ken« (»Nest«), bereits sein zehnjähriges Bestehen. Das nimmt der Verein nun zum Anlass, ein Forschungsprojekt ins Leben zu rufen, das die eigene bewegte Vergangenheit in Deutschland erhellen soll. Bis 1938 waren die Schomrim nämlich in verschiedenen deutschen Städten aktiv – eine Geschichte, die fast in Vergessenheit geraten ist.
Ken »Hashomer Hatzair Deutschland ist eigentlich ein israelischer Re-Import«, sagt Daniel Goldstein, der sich um die Öffentlichkeitsarbeit von Ken kümmert. In Israel gibt es schätzungsweise 14.000 Schomrim. Als einige von ihnen beschlossen, einen Ableger in Berlin zu gründen, seien sie ganz überrascht gewesen, dass Hashomer Hatzair schon einmal hier war, erzählt Goldstein.
Gegründet wurde die älteste noch aktive jüdische Jugendbewegung 1913 in Galizien, damals noch Teil der Habsburgermonarchie. Von dort verbreitete sich die Organisation auch nach Westeuropa, in Deutschland nahm sie ihre Aktivitäten 1930 auf. Seinen Höchststand verzeichnete Hashomer Hatzair 1939 mit circa 70.000 Mitgliedern, die sich auf 35 Länder verteilten.
Von Anfang an war ein Ziel, die Bemühungen um einen jüdischen Staat zu unterstützen. Mit der Machtübernahme der Nazis und dem Beginn des Zweiten Weltkriegs intensivierte die Bewegung ihre Anstrengungen, Juden bei der Alija zu begleiten, und half tatkräftig mit, einen jüdischen Staat aufzubauen. 85 Kibbuz-Gründungen gehen auf das Engagement von Schomrim zurück. Heute leben dreimal so viele »Wächter« innerhalb Israels wie außerhalb. In Ländern außerhalb Israels wieder Fuß zu fassen, ist nicht einfach.
Sozialistisch Das Selbstverständnis von Hashomer Hatzair ist sozialistisch, säkular und jüdisch – eine Kombination, die seit den Anfängen der Organisation einiges an Selbstverständlichkeit verloren hat. Wie viele jüdische Kinder und Jugendliche finden sich wohl in der Diaspora, die sich diesen Werten verpflichtet fühlen? »Es gibt eine große Klientel, die sich für unsere progressiven Werte und das Ziel einer gerechteren Welt begeistern kann«, meint Goldstein.
Er selbst sei in die Vereinsarbeit »so reingerutscht«. Für seine eigene Tochter habe er eine Organisation gesucht, die nicht religiös geprägt ist, aber dennoch einen Bezug zur jüdischen Tradition hat. Heute ist die 13-Jährige begeisterte »Wächterin«. Auch andere kleine Erfolge geben Hoffnung, dass das Konzept einer linken jüdischen Jugendorganisation weltweit eine Zukunft hat: In den vergangenen Jahren sind neue Kenim in Georgien, Usbekistan und Kasachstan hinzugekommen, und das Nest in Berlin besteht seit nunmehr einer Dekade.
»Wir sind vor zehn Jahren mit viel Hoffnung gestartet. Unser Verein hatte aber durch wenig Unterstützung mit einigen Schwierigkeiten zu kämpfen«, sagt Nitzan Menagem, die Vorsitzende von Hashomer Hatzair Deutschland. »In den letzten zwei Jahren gab es einen Aufschwung. Neue Mitglieder sind dazugekommen, und wir haben einige interessante Projekte umgesetzt.« Heute zählt das Berliner »Nest« etwa 200 Wächterinnen und Wächter und hat für Acht- bis Elfjährige und Zwölf- bis 14-Jährige jeweils eine Gruppe, die sich regelmäßig trifft. Hashomer Hatzair sei »für alle Kinder und Jugendlichen der Stadt, die Interesse an Freude, Spaß und offenem Zusammenleben haben«, betont Menagem.
Marke Um dem Berliner Dachverband für Jugendorganisationen, dem Landesjugendring, beitreten zu können, fehlen noch gut 100 Neuzugänge. Eine Marke, die man bald erreichen will. Mit dem geplanten Geschichtsprojekt hofft man auch, etwas Aufmerksamkeit auf den Verein zu lenken. Derzeit läuft noch das Crowdfunding, mit dem die Finanzierung der geplanten Forschungen sichergestellt werden soll.
In der Ankündigung des Projekts heißt es: »Wir, die neue Generation, möchten Spuren und Erinnerungen der früheren Generation ausfindig machen und dokumentieren. Ein Vorhaben, das uns zurück ins Berlin der 30er-Jahre führen wird.« Neben der Recherche in Berlin soll es auch eine Studienreise nach Israel geben, wohin sich viele ehemalige Schomrim aus Deutschland retten konnten.
Ein Ziel ist es, Zeitzeugen ausfindig zu machen und sie nach ihren Erfahrungen zu befragen. Die Ergebnisse sollen in Form einer Publikation und in Vorträgen zugänglich gemacht werden. Goldstein hofft, mit dem Projekt »die Wurzeln der eigenen Organisation zu erschließen und gleichzeitig einen Beitrag dazu zu leisten, eine schlimme Zukunft zu verhindern«.
zeitzeugen Wie relevant die Geschichten der Zeitzeugen sind, erfährt man durch den Vortrag von Rudi Haymann, der bereits 2021 von den Berlinern organisiert und aufgezeichnet wurde. Haymann wuchs in Berlin auf und erzählt eindrucksvoll, wie für ihn als Jugendlichen nach der Machtübernahme der Nazis eine Welt zusammenbrach.
»Das Jüdischsein hatte in meiner Familie nie eine große Rolle gespielt, und plötzlich war ich auch kein Deutscher mehr«, berichtet er. Einen neuen Sinn im Leben gab ihm der Zionismus, den er bei Hashomer Hatzair kennenlernte. Ihm gelang die Flucht nach Palästina, während ein großer Teil seiner Familie ermordet wurde. Als er beschreibt, wie sehr ihn die Nachricht bewegt habe, dass es nun wieder einen Ken in Berlin gibt, kommen dem 99-Jährigen die Tränen.