Meine Woche ist ziemlich voll mit Proben, Reisen und Konzerten. Zurzeit singe ich in drei Chören und trete zudem mit Solo-Programmen auf. Ich habe keine Lust, kürzerzutreten. Proben und Konzerte ermüden mich nicht – im Gegenteil. Nach einem Auftritt bin ich so frisch, dass ich das Ganze glatt wiederholen könnte.
Von Beruf bin ich Schiffsbauingenieur. Zuerst habe ich in einer Werft gearbeitet, später in einem Forschungsinstitut in Odessa am Schwarzen Meer. Dort habe ich Reparaturtechnologien untersucht. Ich hatte als einfacher Techniker angefangen, später habe ich promoviert und ein Team geleitet. In meiner Freizeit spielte ich Theater und sang in verschiedenen Laien-Ensembles – eine Weile sogar in fünf gleichzeitig.
Nach 1990 löste sich das Institut auf, und ich wusste nicht, wie weiter. 1995 waren meine Frau und ich in Berlin zu Besuch bei einer alten Bekannten. Wir überlegten, wohin wir ausreisen sollten. Da sagte ich: »Für mich kommt nur Deutschland infrage!« Mir gefiel die Ordnung sehr. Zudem hatte mich Berlin damals mit seiner Lebendigkeit beeindruckt: Um zwei Uhr nachts war auf der Straße noch viel los, die Leute saßen im Café und amüsierten sich.
Meine Frau war einverstanden. Unser Sohn wollte eher nach Kanada, doch nach dem dortigen Einwanderungsrecht wäre unsere ganze Familie nicht aufgenommen worden. Unsere Enkel und Urenkel sind inzwischen über die ganze Welt verstreut: Einer lebt in Russland, einer in Amerika, eine Enkelin in Israel. Und wir wohnen seit 1999 in Köln. Ich habe es nicht eine Sekunde bereut! Allerdings ist Köln nicht Berlin: In meinem Viertel werden leider schon um 22 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt.
Familie Da ich, als wir auswanderten, schon 63 Jahre alt war, habe ich beschlossen, mich endgültig dem zu widmen, was mir am meisten Spaß macht. Meine Frau und ich haben ein Familientheater gegründet: »Bortnik & Co«. Meine Frau ist ein sehr kreativer Mensch und schreibt schöne Gedichte. Einige wurden schon vertont. Wir sind seit 1996 geschieden, aber wir wohnen nicht weit voneinander, reden oft miteinander und gehen zusammen aus. Jedes Jahr am 27. März begehen wir den Welttag des Theaters, das ist unsere Familientradition. Meine Frau lädt ein, die engsten Freunde sind dabei. Auch den Siegestag über das Naziregime am 9. Mai begehen wir. Ansonsten feiern wir immer, wenn es in der Familie einen Anlass gibt oder wir einfach Lust haben. Wir sitzen zusammen, trinken, reden, singen.
Da meine ehemalige Frau und ich diametral entgegengesetzte kreative Auffassungen haben, könnten wir uns nie auf ein gemeinsames Bühnenprogramm einigen – wäre da nicht unser Sohn. Er ist gelernter Regisseur und Schauspieler. Hier aber in Deutschland moderiert er Veranstaltungen, organisiert Hochzeiten und andere Familienfeste. Für unsere kleine Truppe schreibt er die Szenarien und führt Regie. Dann gehorchen meine Frau und ich bedingungslos und tun, was er sagt.
Als Erstes brachten wir einen Ausschnitt aus einem Stück von Eduardo De Filippo auf die Bühne. Die Zuschauer bestärkten uns darin weiterzumachen, und wir stellten eine Art Varieté mit Szenen aus verschiedenen Operetten zusammen. Alles zum Thema Liebe. Damit sind wir im russischsprachigen Verein »Magnet« aufgetreten, in der Synagoge und den Begegnungszentren in Porz und Chorweiler. Für einige Abende hatten wir auch das Kölner »Theater im Hof« gemietet.
Da unser Sohn sehr beschäftigt ist, liegt unser »Bortnik & Co« zurzeit auf Eis. Es macht keinen Sinn, sich zu wiederholen, und etwas Neues haben wir nicht. Zwar gibt es Ideen für ein Programm unter dem Motto »Hallo, wir sind aus Odessa!«, aber irgendwie finden wir nie die Zeit, sie zu umzusetzen. Nun ja, wenn wir es wirklich wollten, würden wir bestimmt Wege finden, unseren Sohn zu zwingen – auch wenn er scherzt: »Liebe Eltern, umsonst arbeite ich nicht!«
Romanzen Montags probe ich im Chor der Synagoge und dienstags zur Mittagszeit zusammen mit Dina Gontscharova, der Konzertmeisterin des jüdischen Chors. Ich bat sie vor gut sieben Jahren, für mich ein Solo-Programm zusammenzustellen. Bei dem einen ist es dann nicht geblieben. Wir haben inzwischen ein sehr breites Repertoire, das Romanzen, Arien, Schlager und Balladen umfasst. Es ist jedes Mal die Qual der Wahl, was wir präsentieren und was nicht. Wir reisen viel: Allein nach Aachen dreimal in einem Jahr. Nach Bad Kissingen hat man uns auch eingeladen.
Unsere Pläne sind allerdings noch größer. Jetzt wollen wir ein Konzert mit Werken von Oskar Strock, des »Königs des Tango«, vorbereiten. Er ist ein baltischer Komponist jüdischer Herkunft, der in der Sowjetunion bis in die 70er-Jahre verboten war. Er hat um die 300 Tango-Stücke geschrieben. Und danach will ich mich an die Musik von Alexander Vertinsky wagen. Dina Gontscharova meint, für mich wäre es noch zu früh, aber ich traue mir das schon zu.
Allein auf Jiddisch haben wir 50 Lieder zur Auswahl. Die holen wir aus Liedersammlungen: Davon gibt es genug in der Bibliothek der Gemeinde und natürlich im Internet. Gerade habe ich einen Freund gebeten, mir die Noten herunterzuladen. Ich verstehe Jiddisch, weil meine Oma es mit meinem Vater zu Hause gesprochen hat. Was die Musik betrifft, bin ich Autodidakt. Die Noten und Tonalitäten und alles andere habe ich mir selbst beigebracht, und wenn ich ein Stück übe, klimpere ich die Melodie mit einem Finger auf dem Keyboard.
Mittwochs und freitags ist der gemischte deutsch-russische Chor in Chorweiler an der Reihe. Donnerstags probe ich manchmal auch mit Dina, danach um 17 Uhr mit dem jüdischen Chor und gleich danach mit einem deutschen Männerchor. Diesen habe ich bei einem Stadtteilsommerfest kennengelernt. Sein Gesang gefiel mir so sehr, dass ich auf der Stelle gefragt habe, ob ich mitmachen darf.
Sonntags singt der Männerchor manchmal bei Gottesdiensten in evangelischen Kirchen. Und ab und zu am Schabbat und an Feiertagen singe ich mit dem jüdischen Chor in der Synagoge. Wenn der Chor verhindert ist, singe ich auch solo. Zu den Gottesdiensten gehe ich allerdings nicht, denn ich verstehe die hebräischen Gebete nicht.
Fernsehen Den Samstag halte ich mir in der Regel frei. Dann lese ich oder sehe fern. Ich bin ein TV-Maniak. Bei mir laufen zwei Fernseher gleichzeitig und oft der Computer noch dazu. Auf dem einen Bildschirm läuft russisches Fernsehen: blöde Seifenopern, Nachrichten oder Theatervorstellungen. Auf dem anderen kommen deutsche Sportsendungen, aber ohne Ton. Im Internet suche ich Nachrichten oder lese einige interessante Artikel. Mit dem Computer spiele ich auch Karten. Um drei oder vier Uhr nachts gehe ich schlafen.
Wenn es in Köln Gastspiele von Künstlern aus meiner Heimat gibt, versuche ich, diese nicht zu verpassen. Vor Kurzem war ich mit meiner Ex-Frau zu einem russischen Gastspiel. Wir sind zum ersten Mal in unserem Leben in der Pause gegangen. Das ist nicht mein Stil, aber das Theaterstück hatte keine richtige Handlung, und die Hauptfigur verschluckte die Hälfte der Wörter. Vielleicht war auch die Akustik im Saal schlecht. Bei einem früheren Besuch dort, erinnere ich mich, rief das Publikum: »Lauter!« Später trat einer auf die Bühne, dessen Stimme bis zur letzten Reihe trug. Allein deshalb applaudierten die Leute.
Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda