Sicherheit

Hamburger Aufgaben

Nach dem Anschlag am 4. Oktober wurde die Hamburger Synagoge weiträumig abgesperrt. Foto: dpa

Nach dem Anschlag auf einen 26-jährigen Studenten am 2. Tag Sukkot vor der Hamburger Synagoge ist die jüdische Gemeinschaft erschüttert. Doch einschüchtern lassen will sie sich nicht.

Nicht Solidarität, sondern Taten hatte Hamburgs Rabbiner Shlomo Bistritzky in einem spontanen Tweet gefordert. Natürlich, so räumt er in einem Interview mit der Jüdischen Allgemeinen ein, sei Solidarität richtig und wichtig, aber sie müsse zu grundsätzlichen Erkenntnissen und daraus resultierendem Handeln führen. »Sonst ist sie sinnlos und unnütz.«

Nach dem Anschlag in Halle vor einem Jahr habe es einen Aufschrei gegeben. Doch dass wieder an einem jüdischen Feiertag vor einer Synagoge und dieses Mal sogar vor den Augen der Polizei jemand einen an der Kippa erkennbaren Juden angreifen konnte, habe er nicht für möglich gehalten. In diesem Fall konnte die Polizei schnell eingreifen; die Attacke mit einem Klappspaten werteten das Hamburger Landeskriminalamt und die Generalstaatsanwaltschaft als versuchten Mord mit antisemitischem Hintergrund, sodass der Staatsschutz eingeschaltet wurde.

gespräche Die Gemeindeeinrichtungen werden seit Langem polizeilich bestreift. Dennoch fordert Philipp Stricharz, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde, dass die Sicherheit für die Gemeinde weiter verbessert werden müsse. Dazu zählten auch bauliche Veränderungen. Die Jüdische Gemeinde sei deswegen im Gespräch mit der Polizei und anderen Sicherheitsstellen, sagte er dem evangelischen Pressedienst epd.

Die Stimmung in der Gemeinde sei »gefasst«, aber auch »ernüchtert«, sagte Stricharz. »Es hätte nicht so weit kommen dürfen.« Es dürfe nicht sein, dass Gemeindemitglieder nicht einmal mehr vor der Synagoge eine Kippa tragen könnten. Eine Ernüchterung sei es auch für viele, die geglaubt hatten, in Hamburg seien sie vor Anschlägen sicher.

Die Gemeinde spricht sich nun doch für einen Antisemitismusbeauftragten aus.

Die Diskussion um einen eigenen Antisemitismusbeauftragten in Hamburg keimt nach dem Anschlag wieder auf. Die Kontakte zur Polizei seien sehr gut und eng, hieß es bislang immer, und ein Antisemitismusbeauftragter, der nur Vorträge halte und Statistiken aufstelle, reiche nicht aus, so der Landesrabbiner. Von diesem Amt müssten Taten ausgehen, betont Bistritzky und schlägt vor, Synagogenbesuche für Jugendliche von weiterführenden Schulen verpflichtend zu machen. »Damit sie ein Gespräch mit uns, mit jüdischen Vertretern, führen, die auf bestimmte Fragen wirklich Antwort geben können.« Dies sei ein möglicher Weg, um Vorurteile abzubauen.

Gemeinsam mit der Zweiten Bürgermeisterin Katharina Fegebank, dem Gemeindevorsitzenden Philipp Stricharz und dessen Stellvertreter Eli Fel wolle man jetzt endlich einen Beauftragten finden. »Beide Gemeindevertreter sprachen sich ausdrücklich für einen Antisemitismusbeauftragten aus«, sagt Bistritzky über das Gespräch am Montag nach dem Anschlag.

Bornplatz-Synagoge Doch abseits des aktuellen Vorfalls hat die Gemeinde im wahrsten Wortsinn weitere Baustellen. Bei einer kürzlich stattfindenden Diskus-sion des Kulturforums Hamburg im Ernst-Deutsch-Theater über jüdisches Leben in Hamburg wurden der Wiederaufbau der Bornplatz-Synagoge, der Erhalt der Ruine des liberal-jüdischen Tempels in der Poolstraße und die Schoa thematisiert.

Die Ansprechpartner auf dem Podium waren Miriam Rürup, Direktorin des Instituts für die Geschichte der deutschen Juden, Anna von Villiez, Leiterin der Gedenk- und Bildungsstätte Israelitische Töchterschule, Landesrabbiner Shlomo Bistritzky und Lior Oren aus Israel, der in Hamburg die Geschichte seiner Familie Baruch erforscht. Michael Heimann, Leiter der Reformsynagoge, hatte krankheitsbedingt absagen müssen, und auch von der Liberalen Jüdischen Gemeinde Hamburg war niemand auf dem Podium vertreten.

Die Diskussion untereinander und mit dem Publikum kreiste unter anderem um die Frage, wie mit dem unter Denkmalschutz stehenden Nazi-Hochbunker verfahren werden soll. Soll der Bornplatz, der heutige Carlebach-Platz, neben dem Gemeindezentrum Talmud-Tora-Schule mit dem Joseph-Carlebach-Bildungszentrum leer bleiben und quasi als Wunde an die Schändung der Synagoge in der Pogromnacht 1938 erinnern?

Recherche »Sucht man im Internet nach Informationen über jüdisches Leben heute in Hamburg, kommt man nur auf die jüdische Vergangenheit, das Heute aber findet kaum statt«, eröffnete Cornelie Sonntag-Wolgast, Vorsitzende des Kulturforums, die Diskussion. »Gibt es überhaupt ein jüdisches Hamburg?«, fragte Lior Oren bewusst provozierend. Der 38-jährige Israeli wuchs bei Tel Aviv in einer deutschen Familie auf. Er kam vor acht Jahren nach Hamburg. Unter anderem führt er Gruppen zu jüdischen Stätten in Hamburg. »Viele Nichtjuden sind sehr interessiert am jüdischen Leben, vor allem junge Leute mit Migrationshintergrund«, sagte Oren.

»Was verstehen wir unter jüdisch?«, fragt die Historikerin Miriam Rürup.

»Was verstehen wir unter jüdisch?«, fragte Miriam Rürup. Die Historikerin sagte auch, dass die jüdische Einheitsgemeinde die Ruine des Tempels wegen ihrer orthodoxen Ausrichtung nicht als ihr Erbe ansehe, im Gegensatz zur Liberalen Jüdischen Gemeinde, die dort aber keine neue Synagoge bauen wolle.

Shlomo Bistritzky – er kam vor 17 Jahren mit seiner Ehefrau Chani nach Hamburg, der Stadt seines Urgroßvaters, einem erfolgreichen Kaufmann, der vor dem NS-Regime in die USA fliehen musste – sagte: »Heute schaffen wir auf der Basis dieser Vergangenheit neue Fundamente« und verwies damit auf das 2014 eröffnete Rabbinerseminar Or Jonathan. Es sei »ein weithin sichtbares Zeichen für ein gelebtes Judentum«.

Anne von Villiez wünscht sich eine jüdisches Museum, um die jüdische Geschichte Hamburgs zu vermitteln.

»Es gibt in Hamburg nicht mehr viele Orte, die jüdische Geschichte erzählen«, sagte Anne von Villiez. Sie wünscht sich ein jüdisches Museum, um die jüdische Geschichte Hamburgs vermitteln zu können. Es gebe wenig über die innerjüdische Geschichte Hamburgs, beispielsweise über jüdisches Schulleben wie bei der Israelitischen Töchterschule.

»Es gibt diese Orte direkt vor unseren Augen, aber wir nehmen sie nicht wahr, sie werden vernachlässigt, und dadurch verändern sie sich, lasst sie nicht verrotten«, appellierte Miriam Rürup, und verwies auf das ehemalige Israelitische Krankenhaus an der Simon-von-Utrecht-Straße in St. Pauli. Mehrfach war es für ein jüdisches Museum im Gespräch. Doch konkrete Pläne blieben aus.

Rürup monierte auch, dass das jüdische Gemeindehaus, das vor der Schoa gegenüber dem heutigen Rabbinerseminar von Chabad Lubawitsch an der Rothenbaumchaussee 19 stand, aus dem Gedächtnis der Hamburger gestrichen sei, ebenso wie die Tempel-Ruine und das Portugiesenviertel am Hafen, das die sefardischen Einwanderer aufbauten.

Reformgemeinde Landesrabbiner Bistritzky indes warb in der Diskussion immer wieder für den originalgetreuen Aufbau der Bornplatz-Synagoge und erinnerte an die 3000-jährige Sehnsucht der Juden, den Jerusalemer Tempel wiederaufzubauen. Der Reformgemeinde einen eigenen Betraum innerhalb der Bornplatz-Synagoge zu geben, ist aber für den Chabad-Rabbiner unvorstellbar. »Das wäre als Neubau neben der Synagoge denkbar«, sagte Bistritzky.

Es könnte ein jüdische Zentrum mit Café und einem Haus der Vielfalt entstehen, regt Landesrabbiner Bistritzky an.

In der neuen Synagoge brauche die jüdische Gemeinde ohnehin keine 1200 Plätze wie im historischen Vorbild. Dafür könnte ein Zentrum jüdischen Lebens mit koscherem Geschäft und Café als »Haus der Vielfalt« oder »Haus der Begegnung« entstehen. Da Hamburgs Juden über die ganze Stadt verstreut leben, seien außerdem kleine Synagogen in den Stadtteilen wünschenswert.

Privatsache »Für einige Juden ist ihr Judentum Privatsache. Wer hat also ein Interesse an der Öffentlichkeit jüdischen Lebens?«, fragte Moderatorin Siri Keil. »Viele Juden wollen nicht raus, doch viele haben auch gesehen, dass es schön ist, jüdisches Leben sichtbar zu machen«, sagte Bistritzky.

Die Veranstaltung des Kulturforums war eine Bestandsaufnahme. Probleme bleiben, und viele Gemeindemitglieder sind skeptisch angesichts von Öffentlichkeit. Der verletzte Student konnte zwei Tage nach dem Angriff das Krankenhaus wieder verlassen und in seine Heimatgemeinde zurückkehren. Normalität werde jedoch erst langsam wieder eintreten, sagte Rabbiner Bistritzky. Gemeindevorsitzender Philipp Stricharz kündigte hingegen an, dass es nicht die geringsten Änderungen im Programm geben werde.

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