Ich stehe vor einer großen Herausforderung im Leben: Ich bin ein orthodoxer Jude, möchte aber am modernen Zeitgeschehen teilhaben. Es ist manchmal ein Spagat, den ich vollführe. Doch ich respektiere die Halacha, sie steht für mich über allem. Dazu habe ich mich entschieden. Punkt. Da gibt es für mich keine Diskussion.
Hut Meine Aufgabe ist es nun, alles unter einen Hut zu bekommen. Eine Stadt wie Berlin macht es einem Orthodoxen aber nicht leicht. Zum Beispiel in puncto Wohnungssituation: Ich habe vor zwei Monaten geheiratet – wir hatten ein großartiges Fest. Allerdings nicht ohne Stress, das kann ich Ihnen verraten. Meine Frau und ich stehen nun vor der Frage: Wo wollen wir jetzt wohnen? Ich habe meine Wohnung aufgegeben und bin bei ihr eingezogen.
Doch auf Dauer wird uns die Wohnung zu klein – wir sind bereits zu dritt, meine Frau hat ein kleines Kind mit in die Ehe gebracht. Doch an einen Umzug ist im Bezirk Prenzlauer Berg gerade gar nicht zu denken – die Mieten sind der Wahnsinn. Ob wir im Wedding in der Nähe der Brunnenstraße etwas finden, ist ebenfalls fragwürdig. Viele Leute aus meiner Gemeinde, der orthodoxen Synagogengemeinde Kahal Adass Jisroel, wohnen dort.
Orthodoxie Berlin ist zwar eine große Stadt – aber wer hier orthodox leben möchte, der hat nichts von der Größe. Denn die Synagoge muss am Schabbat fußläufig zu erreichen sein. 15 bis 20 Minuten – länger darf der Weg nicht dauern. Mit einem kleinen Kind wird die Sache nicht einfacher – wir dürfen nämlich keinen Kinderwagen schieben. Kurz gesagt: Wir müssen in der Nähe der Synagoge leben, um uns an die Halacha halten zu können.
Ich wollte ein Orchester gründen, dessen Proben und Konzerte nicht am Schabbat stattfinden.
Aufgewachsen bin ich in Petach Tikwa in einer orthodoxen Familie. Vor knapp 20 Jahren zog ich dann nach Berlin. Damals gab es die Wohnungsproblematik in meiner Wahlheimat noch nicht. Die Stadt war zu jener Zeit eine völlig andere. Sie hat sich stark verändert. Nicht alles hat sich unbedingt zum Positiven gewandelt. Die Mieten waren früher niedrig. Im Vergleich zu anderen Städten – und zu Israel – sind sie es bis heute. Aber für mich persönlich eben nicht.
IDEE Ich bin freischaffender Musiker. Ich komponiere, arrangiere, spiele Klavier, unterrichte, dirigiere. Zurzeit bereite ich mein erstes »koscheres Konzert« vor. Sie fragen sich vielleicht, was ich damit meine. Dafür muss ich etwas ausholen.
Vor einem Jahr habe ich den Verein KleyShir gegründet. Das ist ein Netzwerk für jüdische Musiker, die wie ich die Herausforderung angenommen haben, als Orthodoxe in einer modernen Gesellschaft zu leben. Freitag und Samstag – das sind für Musiker normalerweise jene Tage, an denen sie häufig Konzerte spielen und proben. Beides darf ich nicht. Ich habe unzählige Gespräche geführt und wirklich lange überlegt, wie ich dieses Problem lösen kann.
Dann kam mir die Idee des Vereins. Ich verfolge zweierlei Ziele damit: Einerseits möchte ich Aufmerksamkeit auf die Schwierigkeit lenken, die orthodox lebende Juden haben, die professionell Musik machen wollen; andererseits möchte ich koschere Konzerte spielen und ein koscheres Orchester gründen, dessen Proben und Konzerte nicht am Schabbat stattfinden – sondern wo alles so organisiert ist, dass die Halacha gelebt werden kann.
QUINTETT Unser erstes koscheres Konzert geben wir am 22. September, einem Sonntag, im Hotel Savoy. Mein Wunsch ist es, dort möglichst eine Konzertreihe zu etablieren. Doch dafür benötigen wir Förderer. Bisher gehe ich mit diesem Projekt in Vorkasse. Ich hoffe, wir finden Unterstützer – und gerne auch weitere Musiker. Denn mein Verein kann ruhig noch etwas wachsen, das wäre wunderbar. Genremäßig sind wir nicht festgelegt. In unserem ersten Konzert werden wir Werke von Beethoven, Ravel, Gershwin, Weinberg und Dvorák spielen: mal im Quintett, mal Solo – es wird ein abwechslungsreicher Abend. Womöglich erzähle ich auch ein paar Anekdoten aus dem Leben der Musiker und was es für Verbindungen zwischen ihnen gibt.
Ich habe mich in dem Moment in ein Abenteuer gestürzt – dabei hatte ich zuvor noch nie außerhalb Israels gewohnt.
Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit den Biografien und Kompositionen. Sie werden sich womöglich wundern, aber mein Lieblingskomponist ist Richard Wagner. In Israel löst er noch immer viel Unbehagen aus – viele Israelis leisten sogar erbitterten Widerstand gegen die öffentliche Aufführung seiner Werke. Wagner ist und bleibt dort als Antisemit und Lieblingskomponist des NS-Regimes verpönt. Bereits 1938 wurde ein Boykott gegen ihn ausgesprochen. Meiner Meinung nach handelt es sich um ein Missverständnis – Wagners Musik ist ein Meilenstein in der Musikgeschichte.
ABENTEUER Meine Leidenschaft fürs Musikmachen habe ich im Alter von zwölf Jahren entdeckt. Recht spät, finde ich – aber dafür intensiv. Die Stücke Debussys waren mit die ersten, die ich am Klavier einstudierte. Dann habe ich angefangen, selbst Musik zu schreiben. Nach der Schule stand für mich fest, dass ich ein professioneller Musiker werden möchte. Ich entschied mich für ein Kompositions- und Dirigentenstudium in Tel Aviv. Ich bin der Einzige in meiner Familie, der eine künstlerische Laufbahn eingeschlagen hat.
In Israel als Musiker Fuß zu fassen, war nach dem Studium nicht einfach. Eines Tages besuchte ich einen Kollegen in Berlin – mir hat die Stadt auf Anhieb gefallen. Hier hat bis heute jede Szene ihren Platz und kann sich ihr Publikum erspielen.
Ich habe damals gedacht: Dort willst du auch wohnen. Sechs Monate später stand ich mit gepackten Koffern am Flughafen in Tel Aviv. Kein Scherz! Ich habe mich in dem Moment in ein Abenteuer gestürzt – dabei hatte ich zuvor noch nie außerhalb Israels gewohnt.
WURZELN Seitdem ist viel Zeit vergangen, und ich habe nun Wurzeln in der Stadt geschlagen. Spannend ist, dass ich in Berlin das Wachsen und Entstehen der orthodoxen Gemeinde Kahal Adass Jisroel von Anfang an miterleben durfte. Ich war natürlich eines der ersten Mitglieder – und ein Befürworter sowieso. Im vergangenen Jahr habe ich meine dreijährige Ausbildung zum Vorbeter am Institut für Traditionelle Jüdische Liturgie in Leipzig abgeschlossen. Ich sage explizit Vorbeter, andere würden auch Kantor sagen. Aber da gibt es für mich einen großen Unterschied.
Als Vorbeter weiß ich, welche Melodie für welchen Anlass die richtige ist; ich singe bei Gottesdiensten. Ein Kantor ist hingegen ein Künstler, vergleichbar mit einem Opernsänger. Er macht Aufnahmen, singt liturgisch-jüdische Werke. Da könnte ich mit meiner Stimme nie mithalten. Ich bleibe lieber bescheiden. Einen festen Auftrag habe ich derzeit nicht, ab und an bete ich der Synagoge in der Rykestraße vor.
Zurzeit habe ich vor allem einen Wunsch: mehr Freizeit mit meiner Frau und unserem Kind zu verbringen.
Ein Kantor, den ich mehr als schätze, ist Joseph Malovany aus New York. Er ist meiner Meinung nach der beste, den es derzeit gibt. Ich durfte bei ihm alles lernen – er hat uns in Leipzig an verschiedenen Blockseminaren unterrichtet. Was für eine Bereicherung! Ich hatte außerdem das Glück, ihn auf Veranstaltungen am Klavier begleiten zu dürfen. Ehrlich gesagt, bin ich erst über diese Engagements zur Vorbeter-Ausbildung gekommen. Ein interessanter Zufall, den ich heute keineswegs missen möchte.
WUNSCH Ich reise noch immer regelmäßig nach Israel – meine Familie lebt dort. Aber zu Hause bin ich in Berlin. Es ist eine interessante Entwicklung, die mein Leben genommen hat. Ich bin jetzt 47 Jahre alt. Und ich bin wirklich gespannt, wie es weitergeht.
Zurzeit habe ich vor allem einen Wunsch: mehr Freizeit mit meiner Frau und unserem Kind zu verbringen. Die Hochzeit, die Konzertvorbereitung – all das hat viel Kraft gekostet. Manchmal weiß ich gar nicht, wo mir der Kopf steht. Nach dem 22. September werde ich mir eine kleine Auszeit gönnen, darauf freue ich mich schon.
Aufgezeichnet von Maria Ugoljew.