Die Botschaft ist unmissverständlich. Auf der Webseite des Frankfurter Senioren- und Pflegeheims der Henry und Emma Budge-Stiftung heißt es: »Aus gegebenem Anlass durch das Coronavirus bitten wir Sie, momentan unser Haus nicht zu betreten. Da es sich bei unseren Bewohnern um eine Hochrisikogruppe handelt, kann eine Ansteckung schwerwiegende Folgen haben.«
Das Besuchsverbot hat für die insgesamt etwa 330 jüdischen und christlichen Bewohner der Anlage weitreichende Konsequenzen. Auch untereinander sind persönliche Kontakte wegen der Pandemie nicht mehr möglich.
Rabbiner Andrew Steiman betreut etwa 60 jüdische Heimbewohner.
Neben einem katholischen Priester und einer evangelischen Pfarrerin kümmert sich Rabbiner Andrew Steiman um religiöses Leben und Seelsorge in der Budge-Stiftung. Er betreue etwa 60 jüdische Heimbewohner, erzählt Steiman am Telefon. »Ich fühle mich aber auch den anderen verpflichtet«, betont der 62-Jährige.
Einsamkeit Steiman ist sich der schwierigen Situation der Bewohner bewusst: »Sie kommen in ein Altenheim, weil sie nicht allein sein wollen und Gesellschaft brauchen.« Und genau diese fehlt jetzt. Viele Bewohner seien schwerhörig, kämen mit moderner Kommunikationstechnik nicht klar, sagt Steiman. Sie seien völlig isoliert. Das Essen werde vor die Tür gestellt, bisweilen werde es von einem Mitarbeiter in Schutzkleidung geliefert.
»Einige Bewohner verstehen nicht, was los ist«, berichtet der Rabbiner. »Sie kriegen Panik, weil niemand im Speisesaal ist.« Darunter seien auch Schoa-Überlebende. Die Unsicherheit und Ungewissheit sei die größte Herausforderung in dieser Krise, sagt Steiman.
Beim Spaziergang im Garten ergeben sich Kontaktmöglichkeiten – mit Abstand.
Spaziergänge Er versucht auf allen noch möglichen Wegen, Kontakt zu den Bewohnern zu halten. So erzählt Steiman von Spaziergängen im Garten der Wohnanlage, bei denen sich, unter Einhaltung des notwendigen Abstands, Gespräche entwickeln. Sein wichtigstes Arbeitsgerät sei zurzeit das Telefon, erzählt er. Jeden Abend ruft er einige Bewohner an, um ihnen »Gute Nacht« zu wünschen. Das sei wichtig und effektiv, sagt der Rabbiner. Steiman spricht von »kleinen Momenten der Freude«.
Das Kontaktverbot wirkt sich auch auf das Pessachfest aus. Normalerweise seien mindestens 150 Leute beim Sederabend in der Budge-Stiftung dabei, erzählt Steiman. Dieses Jahr müssen die meisten Bewohner den Seder allein in ihren Apartments feiern. Es gibt zudem einige wenige Ehepaare. »Da werden wir zu Caterern«, sagt Steiman.
Die jüdischen Bewohner erhielten eine Pessach-Box mit allen Zutaten für den Sederteller.
Das Budge-Heim stellt jedem jüdischen Bewohner eine Box mit allen Zutaten des Sedertellers sowie mit Suppe, Gefilte Fisch, Mazzen und einer Flasche Wein zur Verfügung. Dazu gibt es eine vom Jüdischen Nationalfonds KKL bereitgestellte, deutsch- oder russischsprachige Haggada. Er habe außerdem eine Anleitung zur Abfolge der Sederspeisen und Segenssprüche verfasst, sagt Steiman.
Elijahu Auch der Hinweis, ein zweites Gedeck für den Propheten Elijahu einzurichten, findet sich in der Anleitung. Dessen Botschaft könne, meint Steiman, ein Trost sein: »Du bist nicht allein.« Der Rabbiner hebt einen weiteren gemeinschaftsstiftenden Faktor hervor: Auch wenn jeder Bewohner in seinem Apartment vor seinem Sederteller sitze, anstatt gemeinsam im Saal, tue man dies gleichzeitig.
Man bete ja auch zur gleichen Zeit, selbst wenn die Synagogen nicht zugänglich sind. Die Gebetszeiten seien selbst nach der Zerstörung des Tempels nicht verändert worden, betont der Rabbiner.
Dass man vor der ersten Speise angehalten sei, die Hände zu waschen, verleihe dem diesjährigen Seder besondere Aktualität, findet Steiman: »Schon die Sklaven wussten sich die Hände zu waschen.«
Befreiung Auch der in Pessach eingeschriebene Gedanke der Befreiung ist dem Rabbiner wichtig. Man wisse zwar nicht, wie lange die Isolation noch dauere. Man müsse sich jedoch daraus befreien. Das gehe erst einmal nur geistig: »Die Freiheit fängt im Kopf an.« Die körperliche Freiheit, die Juden an Pessach feierten, habe man momentan nicht.
Trude Simonsohn konnte ihren 99. Geburtstag nicht feiern und riet ihren potenziellen Gästen: »Hebt euch die Geschenke auf, die kriege ich nächstes Jahr.«
»Wir Juden haben eine wichtige Kraft in unserer Erinnerung«, ist Steiman überzeugt. Er hebt unter anderem die Exilgeschichte der jüdischen Einwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion hervor. Der Pessachgeschichte seien sie durch diese Erfahrung näher als er. Steiman ruft die zweite Einwanderergeneration auf, ihre Eltern anzurufen – »damit sie vom Auszug erzählen«.
Der Rabbiner ist sich dessen bewusst, dass Pessach dieses Jahr unter extrem ungewöhnlichen Umständen stattfindet. »Ich möchte nicht sagen, dass das ein Kriegsseder ist«, sagt der ehemalige Militärseelsorger der US-Armee.
»Aber es ist ein Kampf«, stellt Steiman klar. Den Feind, das unsichtbare Virus, könne man mit seinen eigenen Waffen schlagen: durch Unsichtbarkeit und Anpassung. »Deswegen müssen wir uns jetzt in diese Isolation begeben«, mahnt Steiman.
Überhaupt sei es nicht das erste Mal in der jüdischen Geschichte, dass sich Juden einer Katastrophe anpassen müssten. Daher gelte: »Versuchen wir, aus dieser Katastrophe das Beste zu machen.« Dabei sei Humor wichtig, sagt Steiman. Er helfe wirklich sehr.
Zuversicht Ihren Humor und ihre Zuversicht hat auch eine besondere Bewohnerin des Budge-Heims nicht verloren. Vor Kurzem wurde die Schoa-Überlebende und Frankfurter Ehrenbürgerin Trude Simonsohn 99 Jahre alt.
Eine Feier konnte wegen der geltenden Kontaktbeschränkungen nicht stattfinden. Andrew Steiman zitiert Simonsohn mit den Worten: »Hebt euch die Geschenke auf, die kriege ich nächstes Jahr, wenn ich 100 werde.«