Erfurt

Gute Aussichten

Eine wichtige Aufgabe: Jüdische Sozialarbeit besteht jedoch nicht nur aus der Betreuung von älteren Menschen, auch Jugenliche brauchen Unterstützung. Foto: imago

Festlich gekleidet sitzen 31 Frauen und Männer zwischen 23 und 45 Jahren in einem Raum der Fachhochschule Erfurt. Es ist ihr erstes Treffen, das erste Kennenlernen. Sie kommen aus dem gesamten Bundesgebiet, sind meist Migranten mit einem Studienabschluss und wollen in den kommenden vier Jahren ihren Bachelor für Sozialarbeit erwerben, speziell mit jüdischem Hintergrund.

Eine junge Frau mit russischem Akzent drückt ihr Kleinkind der Großmutter in den Arm, geht in den Raum und packt ihre Schreibsachen aus. Sie sei auch Akademikerin, erzählt sie. »Diplom-Ingenieur für Halbleitertechnik, ein anerkannter Abschluss, aber leider ohne Berufsaussichten.« Als sie vor mehr als zehn Jahren in die Bundesrepublik kam, sah es schlecht aus mit einem Arbeitsplatz für sie. Heute sei das zwar anders, doch ihr Studium liege nun zu weit zurück. Und sie habe festgestellt, soziale Arbeit in Verbindung mit dem jüdischen Leben, das ist es, was sie machen möchte.

Wunschberuf Yaniv Kutschinski, ist einer der Jüngsten in der Gruppe. Seine Kippa sitzt akkurat. Die braunen Augen leuchten durch die Brille. Er kann sich nichts anderes vorstellen, möchte viele Gemeinden kennenlernen und Sozialarbeit leisten: »Ich hoffe, dass ich später davon leben kann. Es geht mir nicht ums Geldverdienen, dann hätte ich BWL studieren können«, sagt er und lacht. Am liebsten möchte er später mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Berufsbegleitend werden er und seine Kommilitonen in den kommenden vier Jahren einen akademischen international anerkannten Abschluss erwerben.

Statt Anwesenheitspflicht in der Fachhochschule werden sie per Computer-Chat mit den Professoren verbunden sein und die modernen Kommunikationswege nutzen. »Wir können es nicht hoch genug einschätzen«, sagt Doron Kiesel, Professor für Sozialpädagogik an der Fachhochschule (FH) Erfurt, »dass die jungen Migranten trotz eines schwierigen Hintergrundes die Bildungschancen nutzen, motiviert und engagiert ihr Ziel im Blick haben. Wir erwarten von ihnen auch kontinuierliche Präsenz und würdigen das sehr.« Dass Bildung keine Selbstverständlichkeit sei, würden viele Migranten mehr schätzen als andere Studenten.

Zweiter Studiengang Doron Kiesel und Esther Weitzel-Polzer werden die 31 Studenten in den kommenden Semestern betreuen. Ziel ist, dass die jungen Migranten mit ihrem sprachlichen und akademischen Hintergrund professionell in der Kinder-, Jugend- und Gemeindearbeit tätig sein können, in der Alten- und Krankenpflege, beim Betreuen von Gemeindemitgliedern und beim Vorbereiten von jüdischen Festen. Der Präsident der FH Erfurt, Heinrich H. Kill, ist beeindruckt von dem mittlerweile zweiten Durchgang dieses europaweit einmaligen Studienganges.

Die ersten 20 Absolventen seien bereits in der Praxis. Nun starte der zweite Kurs. »Ein Erfolg«, sagt er, »auch für Erfurt«. Das Studium wurde gemeinsam von dem Zentralrat der Juden in Deutschland, der Zentralwohlfahrtstelle der Juden und der Fachhochschule initiiert und finanziert. »Warum Erfurt?«, fragt Stephan J. Kramer Generalsekretär des Zentralrats.

Diese Frage wird ihm oft gestellt. »Warum nicht!«, entgegnet er. »Die ICE-Taktung könnte mit Blick auf die Fahrpläne besser sein«, doch die Studierenden des ersten Durchganges hätten sich alle wohlgefühlt, fast alle hätten eine gute Arbeit gefunden und nun werde fortgesetzt, was vor Jahren begonnen wurde. Der Bedarf an qualifizierten Sozialarbeitern mit jüdischem Hintergrund sei weiterhin sehr groß, nicht nur in den Gemeinden.

Auch Wolfgang Nossen, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, lobt die Ausbildung. In seiner Gemeinde in Erfurt würden bereits seit 20 Jahren zwei Sozialarbeiterinnen mit Migrationshintergrund arbeiten, Germanistinnen. Für die Jugendarbeit gäbe es leider niemanden. Auch für Jena würde er gerne mehr Personal sehen, denn es werde gebraucht, doch die finanziellen Mittel seien begrenzt.

Professionalität Je besser der Abschluss, umso besser sind die Berufs- und Finanzierungsaussichten, sagen die Initiatoren. Der Bedarf an professionellen mehrsprachigen Sozialarbeitern ist hoch. Wenn die Absolventen später in den Gemeinden, in Altenheimen, Kindergärten und Jugendgruppen arbeiteten, würde ihre Arbeit je nach vorhandenen Mitteln honoriert werden können.

»Ich wünschte mir, dass der Studiengang zur Normalität wird«, sagt Kramer. Die Menschen sind wichtige Bindeglieder in einer Gesellschaft, die sich einst für Zuwanderung entschieden hat, diese aber nicht bestmöglich integriert. »Wir haben eine ganze Generation von Zuwanderern, die verloren ist«, meint der Generalsekretär und bedauert die zögernde Anerkennungspolitik akademischer osteuropäischer Abschlüsse. Mit Blick auf die eigenen Gemeinden und die Ressentiments ausländischen Zuwanderern gegenüber bemerkt er: »Wir sind nicht frei davon. Aber wir tun etwas dagegen.«

Zur feierlichen Eröffnung in dieser Woche war Rabbiner Julian Chaim Soussan zu Gast. »Sozialarbeit ist eine Berufung« hob er hervor, »die Studierenden haben die Berufung zum Beruf gemacht!«

Nun liegen vier arbeitsreiche Jahre vor den Männern und Frauen. Sie werden nach Feierabend ihren Computer anschalten und lernen, wie moderne Sozialarbeit organisiert werden kann, wie das jüdische Gebot der Wohltätigkeit noch besser in den Gemeinden verankert werden kann und wie sie ihre »Hilfe zur Selbsthilfe« an andere weitergeben können. »Vielleicht«, so sagen die Lehrenden, »machen manche von ihnen später, nach dem Bachelor, noch ihren Master.« Warum nicht. »Es gilt das lebenslange Lernen«, merkt Abraham Lehrer von der Zentralwohlfahrtstelle an.

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