Die Pandemie macht es schwer, Zukunftsprognosen abzugeben. Zwei Aussagen können aber in Stein gemeißelt werden: Neben unserer Gesellschaft insgesamt werden auch jüdische Gemeinden und Verbände die Krise strukturell nachhaltig verändert verlassen.
Wenn Corona bisher eines bewiesen hat, dann, dass der Wille und die Kraft der hauptamtlichen und freiwilligen Kräfte in Gemeindestrukturen auch vor einer Pandemie nicht haltmachen. Es reicht der Blick auf die digitalen Angebote der Jugendzentren und des Jugendreferats der ZWST, die vom Kochkurs auf Facebook bis zur Hawdala im Zoom-Chat reichen.
LIVESTREAM Die Bildungsabteilung im Zentralrat lädt zum neuen Online-Format »Jüdischer Salon« ein, und »Schalom Aleikum« führt den jüdisch-muslimischen Dialog jetzt auch per Livestream. Makkabi ist es gelungen, in kürzester Zeit ein komplettes Sportprogramm ins Netz zu stellen. Neben Rhythmischer Sportgymnastik oder zahlreichen Online-Seminaren wird mittlerweile auch Sturzprophylaxe in die Wohnzimmer unserer ältesten Gemeindemitglieder gestreamt. Beratung findet per Telefon oder online statt. Und die Verwaltung funktioniert auch aus dem Homeoffice. Kurzum: Gemeinde geht auch digital.
Gemeinde geht auch digital.
Ob netzpolitische Fragestellungen, Cybersecurity oder der Ausbau digitaler Infrastruktur: Auch ohne die aktuelle Corona-Krise muss sich die jüdische Gemeinschaft dem digitalen Wandel stellen, und das tut sie. Das Projekt »Mabat« stellt eine Denkfabrik innerhalb der ZWST dar und verschreibt sich dem Ziel, digitale Teilhabe für Gemeindemitglieder und Mitgliedsverbände zu garantieren.
Dieses im Rahmen der Bundesarbeitsgemeinschaft für freie Wohlfahrtspflege vom Familienministerium geförderte Programm ist unter Europas jüdischen Gemeinden einmalig und ermöglicht spannende Pionierarbeit. Es stellt uns aber auch täglich vor neue Herausforderungen.
PORTFOLIO Unser ohnehin schon breites Portfolio hat mit Beginn der Pandemie völlig neue Relevanz erlangt. Dabei geht es bei Weitem nicht bloß um Hilfegesuche. In unglaublicher Geschwindigkeit werden Ideen kommuniziert und gemeinsam umgesetzt. Corona hat die Gemeinden ins Netz getrieben. Vom Podcast des Dortmunder Jugendzentrums bis hin zur Münchener Initiative #Tablets4Safta – der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.
Letztere Kampagne ist ein gutes Beispiel für die Notwendigkeit, Gemeinde auch digital zu denken: Die auf diese Weise eingenommenen Spenden, die den Bewohnern jüdischer Einrichtungen der stationären Altenhilfe Videotelefonie mit ihren Nächsten ermöglichen sollten, hätten wenig gebracht, wenn wir nicht schon im vergangenen Jahr in vielen dieser Einrichtungen großflächig den WLAN-Zugang ausgebaut hätten.
Die jüdische Gemeinschaft muss sich dem digitalen Wandel stellen, und das tut sie.
Neben wöchentlichen Gottesdiensten verlagerte die Jüdische Gemeinde Wiesbaden ihr Jom-Haazmaut-Konzert auf Zoom. Zu Schabbat freut sich die Gemeinde, in Livestreams Menschen anzutreffen, die zuvor wegen Bewegungseinschränkungen den Angeboten fernbleiben mussten.
SICHERHEIT Schnell verflog die erste Angst vor digitalen Räumen – generationenübergreifend –, und umso offensichtlicher ist die Notwendigkeit geworden, diese aktiver mitzugestalten. Fragen der Online-Sicherheit wurden zum Beispiel ausgelöst durch Fälle von »Zoombombing«; plötzlich wurde in anderen Tönen diskutiert. Doch in vielen Gemeinden besteht der Wille, etliche der Online-Formate auch nach der Pandemie fortzuführen.
Werden die Gemeinden also jemals wieder an den Punkt vor der Pandemie zurückkehren können? Ja und nein. Wir haben die Chance, unsere Strukturen gerade neu auszurichten, keinesfalls werden sie aber durch Online-Formate ersetzt werden. Gemeinden werden digital gestärkt aus der Krise gehen und ihr Angebot lediglich erweitern, keinesfalls ersetzen.
Online-Programme können Zugänge erleichtern und neue Zielgruppen erschließen, sie werden aber niemals »Offlineformate« ersetzen können. Dass auf Machanot bewusst Mobiltelefone für zwei Wochen abgeschaltet werden, liegt nicht an unbegründeter Skepsis vor der Technik, sondern an den unvergesslichen Momenten, die eben vor allem nur offline zustande kommen können.
ZOOM Schon seit den frühen 90er-Jahren können wir auch online miteinander Schach spielen, den Schachklub werden aber weder Apps noch Computer ersetzen können. Ein Austausch auf Zoom ist nicht dasselbe wie eine Podiumsdiskussion vor Publikum. Der Gottesdienst im Livestream ist mit dem Minjan in der Synagoge nicht vergleichbar.
Eine völlig neue Bandbreite an Programmen scheint plötzlich greifbar.
Dennoch: Eine völlig neue Bandbreite an Programmen scheint plötzlich greifbar, und neue Strukturen kamen in den letzten Monaten in Deutschland zum Vorschein. Freuen wir uns also auf neue Gemeindeformate nach Corona, nehmen wir die gewonnenen Erkenntnisse als Ausgangspunkt, um tatsächlich digitaltransformativ zu denken, und stellen wir sicher, dass wir auch in Zukunft dem Ideenreichtum unserer Community strukturell gerecht werden.
All dies unter der Prämisse, dass Barrieren für Menschen mit Behinderung, in Armut Lebende oder anderweitig Benachteiligte abgebaut werden und nicht zunehmen. So werden Gemeinden gestärkt, on- und offline, für Jung und Alt.
Der Autor ist Leiter der Stabsstelle Digitale Transformation der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST).