Das sogenannte Betreuungsgeld ist nicht nur in den Regierungsparteien ein umstrittenes Thema. Auch die Gesellschaft diskutiert Vor- und Nachteile einer häuslichen Betreuung gegenüber der in einer Krippe mit geschulten Erzieherrinnen. Für jüdische Kinder ist die Lage noch etwas kritischer. Zum einen stehen religiös geführte Einrichtungen nicht flächendeckend zur Verfügung, zum anderen können die wenigen vorhandenen nicht alle Kinder unter drei Jahren aufnehmen. Lesen Sie, welche Sicht jüdische Funktionäre und Sozialarbeiter auf dieses Thema haben:
»Soziale Kompetenz«
Im Klartext: So ein Unsinn, noch dümmer kann man’s wohl nicht machen. Allein schon, ein Betreuungsgeld überhaupt angedacht zu haben, ist empörend – und Zeitvergeudung. Man kann doch nicht andauernd beklagen, die Kinder müssten gefördert werden und dann genau diese Förderung in den pädagogischen Einrichtungen durch Geldzahlungen verhindern.
Meine Kinder sind mit drei Jahren in den jüdischen Kindergarten gegangen, zuvor hatten wir schon mit einigen Müttern selbst reihum Spielkreise veranstaltet. Bei uns in der Familie wurde das Judentum immer praktiziert und vorgelebt, aber das ist nicht in allen jüdischen Familien so. Für einige der Kleinen kam es beispielsweise damals im Kindergarten praktisch zu den ersten intensiveren Begegnung mit dem Judentum – und plötzlich wollten die Kinder gern in die Synagoge gehen, Schabbat feiern und so weiter. Das ist heute nicht anders, und deswegen müssen die Kinder eine Chance bekommen, mehr über Bräuche zu erfahren, und das können sie in den entsprechenden Einrichtungen.
Aber nicht nur aus religiöser Sicht halte ich es für immens wichtig, dass Kinder nicht zu Hause bleiben: Teilen, sich zurück- nehmen, sich mit anderen arrangieren, lernt man am besten in einer Gruppe von Gleichaltrigen. Kinder müssen gefördert werden. (Lala Süsskind, ehemalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin)
»Selbstständigkeit«
Für mich ist das Betreuungsgeld sinnlos. Es bedeutet doch nichts anderes, als dass die Eltern gelockt werden, die Kinder zu Hause zu behalten. Dabei sind viele Eltern schon heute nicht in der Lage, ihre Kinder in den Kindergarten zu schicken, weil sie es sich finanziell nicht leisten können oder keinen Gutschein bekommen.
Ein Kind zu lange zu Hause zu lassen, bedeutet manchmal auch, es zu hemmen. Kinder sind in Wirklichkeit oft viel weiter, als die Eltern denken, sie zu betütern bedeutet, sie künstlich klein zu halten. In unserer Einrichtung werden Kinder schon ab sechs Monaten betreut. Außenstehende glauben oft gar nicht, wie sehr man sie schon in diesem Alter spielerisch fördern kann. Wir sehen folgerichtig, dass diejenigen, die die Krippe besuchten, viel selbstständiger und freier sind als die, die erst in die Elementargruppe kommen.
Dabei möchte ich allerdings auch betonen, dass es keinen festen Richtwert gibt, ab welchem Alter ein Kind in den Kindergarten gehen sollte. Das hängt nicht nur vom Kind ab, sondern auch davon, ob das zu Hause bleibende Elternteil mit seiner Rolle zufrieden ist oder nicht – so etwas überträgt sich nämlich.
Ein wichtiger Aspekt spielt in der derzeitigen Diskussion über das Elterngeld kaum eine Rolle: Väter und Mütter kennen ihren Nachwuchs natürlich gut, und deswegen fehlt manchmal der Blick von außen. Entwicklungsstörungen werden im Kindergarten oft eher bemerkt, denn Eltern glauben, dass sie bei den Vorsorgeuntersuchungen automatisch auffallen müssten, und wenn der Arzt nichts finde, sei alles in Ordnung. Wie leicht man etwas übersieht, kann ich anhand eines persönlichen Beispiels schildern: Meine Mutter ist schwerhörig, ich bin daher den Umgang mit Menschen, die nicht gut hören, gewohnt und spreche deswegen auch so, dass sie mich verstehen.
Im Kindergarten hatten wir einmal ein Kind, das schwerhörig war, was aber weder seinen Eltern noch mir aufgefallen war. Erst durch eine Kollegin wurden wir darauf aufmerksam gemacht, und dann konnte dem Kleinen auch schnell geholfen werden. Zu Hause wäre die Schwerhörigkeit vermutlich lange nicht bemerkt worden. (Judith Jacobius, Leiterin des Ronald-Lauder-Kindergartens der Jüdischen Gemeinde Hamburg)
»Gleichaltrige Freunde«
Das Betreuungsgeld ist meiner Meinung nach nichts anderes als die Flucht aus einem nicht gehaltenen Versprechen der Bundesregierung, nämlich dem, dass jedes Kind einen Kindergartenplatz bekommen soll. Und nun kauft man den Eltern diesen Anspruch wieder ab? Das ist empörend. Wie übrigens auch, dass das Betreuungsgeld auf Hartz IV angerechnet werden soll.
Man darf die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass es problematische Familienverhältnisse gibt, in denen zusätzliches Geld für alles Mögliche, aber nicht für das Wohl der Kleinen ausgegeben wird. Gerade für diese Kinder wäre es aber sehr wichtig, dass sie einen Kindergarten besuchen, um in den Genuss der bestmöglichen Förderung zu kommen.
In Erfurt haben wir leider keinen jüdischen Kindergarten, ich hätte zwar gern einen eingerichtet, aber dieses Vorhaben ließ sich leider nicht realisieren. Ich selbst bin in Breslau in einen jüdischen Kindergarten gegangen und habe ihn geliebt. Ich komme aus einer kinderreichen Familie. Wir waren zu Hause fünf Geschwister und fanden es immer sehr eigenartig, wenn unsere Mutter aus ihrem Leben als Einzelkind erzählte. Und obwohl zu Hause also immer etwas los war, war es toll, im Kindergarten zu sein. Gemeinsam aufwachsen, ein Gefühl für die Gemeinschaft zu bekommen. Alles das sollte man einem Kind nicht nehmen. Denn Kinder wollen mit Gleichaltrigen zusammensein – und lernen auch gern.
Als ich ab 1941 nicht mehr in die Schule gehen durfte, weil das von den Nazis verboten wurde, fand ich es zwei, drei Wochen lang ganz in Ordnung, freizuhaben. Dann aber fehlte mir der Kontakt zu den wenigen Klassenkameraden, die mir noch geblieben waren – ich bin zuerst illegal in eine sogenannte arische Schule gegangen und dann im Ghetto zum Unterricht in einen Keller.« (Wolfgang Nossen, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen in Erfurt)
»Geld für die Rente«
Ich bin kein Freund dieses Betreuungsgeldes, für mich persönlich weist es einfach in die falsche Richtung. Bildung und Sozialkompetenz fängt im Kindergarten an. Auch wenn Eltern sich sehr bemühen, der Kindergartenbesuch ist nicht durch Spielen zu Hause zu ersetzen. Darüber hinaus ist ja auch nicht auszuschließen, dass das Geld von manchen Familien gar nicht in die Bildung ihrer Kinder gesteckt wird.
Dazu kommt die ungeklärte Frage, was dieses Betreuungsgeld eigentlich bringen soll. Auf der einen Seite beklagt man dauernd, dass zu wenige Frauen im Beruf, geschweige denn, in Führungspositionen sind, und nun will man sie plötzlich dafür bezahlen, zu Hause zu bleiben? Ich hätte es besser gefunden, wenn das Geld, das nun dafür ausgegeben wird, in die Rente gesteckt wird, das würde ich für das nachhaltigere Konzept halten – zumal viele Frauen, die sich heute der Kindererziehung widmen, später kaum Ansprüche haben werden. Die ganze Idee kommt mir äußerst veraltet vor, interessant, dass sie ausgerechnet von einer so jungen Ministerin kommt.
Für die Juden hier aus der Region dürfte das Geld allerdings kein Thema sein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass unsere Menschen hier den allergrößten Wert auf Bildung ihrer Kinder legen, die steigenden Anmeldungen in unserem Kindergarten deuten darauf hin, dass sie ihn sehr gut angenommen haben. Wir konnten die Zahlen der jüdischen Kinder in unserer Einrichtung fast verdoppeln. Eltern wollen ihren Nachwuchs gern in kompetente Hände geben. Und deswegen erwarte ich auch nicht, dass unsere Einrichtung wegen des Betreuuungsgeldes nun plötzlich leer bleibt. Ganz sicher nicht.« (Michael Rubinstein, Geschäftsführer der Jüdischen Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen)