Die Jüdische Gemeinde in Gießen kann sich über einen Überraschungsfund freuen. Bei der Vorbereitung der Baustelle zur Erweiterung der Kongresshalle der 91.000-Einwohner-Stadt in Hessen kam das erstaunlich gut erhaltene Fundament der Neuen Synagoge zum Vorschein.
In der Pogromnacht am 10. November 1938 setzten SA-Mitglieder beide Synagogen Gießens in Brand. Später wurde die Ruine der Neuen Synagoge gesprengt. Auch deshalb grenzt es für die kleine Jüdische Gemeinde vor Ort an ein Wunder, dass das Fundament in diesem guten Zustand erhalten ist.
»Der Blick auf die Reste offenbart auch einen Blick auf ein düsteres Kapitel der eigenen Geschichte.«
Frank-Tilo Becher, Oberbürgermeister von Giessen
»Die Nachricht über die Entdeckung der Reste der alten Synagoge habe ich Ende 2022 mitbekommen«, sagt Dow Aviv, der Gemeindevorsitzende. »Allerdings dachte ich zu dem Zeitpunkt, es handle sich um einige Steine von den Fundamenten, denn immerhin haben die Nazis damals den Befehl gegeben, alles gründlich zu zerstören was nicht verbrannt wurde. Umso größer war meine Freude, als ich die sehr gut erhaltenen Grundmauern gesehen habe.«
Gießens Oberbürgermeister Frank-Tilo Becher erklärte, der Blick auf die Reste offenbare auch »einen Blick auf ein düsteres Kapitel der eigenen Geschichte«. Becher war es auch, der die Jüdische Gemeinde über den Fund in Kenntnis setzte.
Gebetsbücher Die kompletten Mauerzüge kamen bei den Arbeiten, in die Archäologen involviert waren, zum Vorschein. »Im Schutt, der den Keller des Gebäudes völlig ausfüllte, konnten aufgrund der sorgfältigen Arbeit der Archäologen unter Leitung der Denkmalschutzbehörde noch Reste von Gebetsbüchern und Ledereinfassungen in hebräischer Schrift geborgen werden«, hieß es in einer Erklärung der Stadt. »Diese Zeugnisse des einstigen blühenden jüdischen Lebens wurden geborgen und befinden sich derzeit in der Restaurationswerkstatt des Landesamtes für Denkmalpflege in Wiesbaden.«
Bisher sind keine Besichtigungen des Fundes vorgesehen, was sich aber schon bald ändern soll. Gießen bat darum, das Gelände zunächst nicht zu betreten, »aus Rücksicht auf die Funde«.
»Es hat mich sehr mitgenommen, emotional vor allem.«
Dow Aviv, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde
Was mit dem Synagogenfundament passieren wird, ist indes noch offen. Darüber wird nach Angaben aus dem Gießener Rathaus »nach der Vorlage eines Abschlussberichts des Landesamtes für Denkmalpflege zwischen Stadt und Landesamt entschieden«.
Angesehener Ort Errichtet wurde die Neue Synagoge von 1865 bis 1867. Bereits 1892 kam es zu einer Erweiterung. »Sie war das größte jüdische Gotteshaus in Gießen und ein angesehener Ort jüdischer Kultur und Religion mitten in der Stadt«, so die Stadtverwaltung.
In der Pogromnacht kamen einige der SA-Brandstifter in Zivil, um den »Schein der berechtigten Entrüstung unserer Volksgenossen zu geben«, schrieb der »Gießener Anzeiger«. Die Männer der Feuerwehr hätten damals »Brandschutz« geleistet, indem sie »nur die Nachbarhäuser bespritzten«. Die Grundmauern wurden nach dem Brand gesprengt. Umso überraschender ist der Fund.
»Es hat mich sehr mitgenommen, emotional vor allem«, so Dow Aviv gegenüber der Jüdischen Allgemeinen. »Bei mir kommen die Erinnerungen von Berichten der Zeitzeugen hoch, und die der eigenen Familie, die die Schoa überlebt hat.« Über Möglichkeiten zum Erhalt des Fundaments »und die Frage, wie wir mit der Stadt Gießen die Funde in einer Gedenkstätte gestalten können«, denkt er nach.