Meine Seele ist in Charkiw, in meiner Heimat. Aber ich lebe jetzt in Freiburg. In Deutschland ist das Leben gut, aber für mich unnatürlich. In Charkiw wäre das Leben für mich natürlich, dafür aber schlecht. Wenn ich jetzt nach Charkiw zurückkehren würde, könnte ich dort nicht mehr in meiner Muttersprache Russisch sprechen. Und das Kulturzentrum, das Boris Tschitschibabin gewidmet ist, dem ukrainischen Dichter, der mein Mann war, kann derzeit nicht mehr geöffnet werden.
Nun versuche ich, von meinem Exil in Freiburg aus, Gedichte von Boris Tschitschibabin zu veröffentlichen. Bisher gibt es nur eines in deutscher Übersetzung. Es heißt »Blutrote Tomaten«.
Hunger und Kälte kannte ich aus meiner Kindheit
Aus meiner Kindheit weiß ich, wie sich Hunger und Kälte anfühlen. Ich wurde 1938 in Charkiw geboren. Mein Vater war herzkrank, deshalb musste er nicht Soldat werden. Er wurde als Buchhalter nach Sibirien ausgesiedelt. Im September 1941 wurden meine Mutter, meine Schwester und ich mit einem der letzten Evakuierungsfahrzeuge zu ihm in die Nähe von Tomsk gebracht. Zuerst lebten wir in einer Kaserne, es war eisig, und es gab wenig zu essen.
Mein Vater starb 1952, aber wir blieben in Sibirien. Eigentlich wollte ich Geologie studieren und bewarb mich mit einer Freundin fürs Studium. Sie wurde sofort zur Aufnahmeprüfung zugelassen. Ich nicht, trotz derselben Noten. Wahrscheinlich lag es daran, dass ich Jüdin war. Ich entschied mich dann für ein Ingenieursstudium am Institut für Eisenbahn- und Transportwesen. Ich hatte gelesen, dass man dann während der Ausbildung mit dem Zug durchs ganze Land fahren kann – das gefiel mir.
Hier ist das Leben gut, aber für mich unnatürlich. In der Ukraine wäre es natürlich, aber schlecht.
1962 wollte ich unbedingt wieder zurück in meine Heimat, nach Charkiw. Das war nicht einfach und klappte nur, weil mein Cousin dort lebte und mir half, Arbeit und eine Wohnung zu finden. Die Arbeitssuche zog sich hin, denn als Jüdin hatte ich schlechte Voraussetzungen. Ähnlich kompliziert war es mit der Wohnung. Erst lebte ich bei meiner Tante. Dann gelang es 1965, dass wir die Zweizimmerwohnung in Sibirien, in der meine Mutter und meine Schwester damals noch lebten, gegen eine 15 Quadratmeter große Baracke in Charkiw tauschen konnten. Dort zogen wir zu dritt ein.
Mein Leben lang habe ich Literatur geliebt, besonders Lyrik. In meiner Jugend schrieb ich selbst Gedichte. Natürlich kannte ich den bekannten ukrainischen Dichter Boris Tschitschibabin. Er war in der Stalin-Zeit verhaftet worden und musste von 1946 bis 1951 fünf Jahre in ein Arbeitslager. Auch später stand er immer unter der Kontrolle des KGB. Er wurde trotzdem bekannt als Dichter und organisierte viele Literatur-Veranstaltungen, obwohl er die meiste Zeit als Buchhalter arbeiten musste.
Ihm gefielen meine Gedichte
Dann passierte etwas sehr Ungewöhnliches: Ein Kollege von mir brachte heimlich, ohne dass ich das wusste, meine Gedichte zu Boris Tschitschibabin. Daraufhin lud er mich zu seinen Veranstaltungen ein. Dass ihm meine Gedichte gefielen, war natürlich etwas sehr Besonderes für mich. Doch ich arbeitete als Ingenieurin – bei ihm dagegen war die Poesie sein Leben. Irgendwann ging ich nicht mehr zu seinen Veranstaltungen. Einige Zeit später begegnete ich ihm zufällig auf der Straße.
Er lud mich in einen nahen Park ein, dort saßen wir auf einer Bank und unterhielten uns. Er las mir seine Gedichte vor. Am Abend, als ich von der Arbeit kam, wartete er mit Mandarinen auf mich. Ich war sehr überrascht. Damals lebte er noch mit seiner Frau Mathilda zusammen, doch die Beziehung war in einer tiefen Krise. Er war traurig und deprimiert. Diese Situation war für mich sehr belastend. Außerdem war er 15 Jahre älter als ich – ich war 30, er 45. Doch ein Jahr später zog er bei mir ein. Das Einzige, was er damals mitbrachte, waren ein paar Bände Lyrik, zwei Bücher von Marina Zwetajewa und zwei von Boris Pasternak. Sonst nichts.
Boris Tschitschibabin war ein faszinierender Mensch. Er hat sich von niemandem vereinnahmen lassen. Als wir zusammenkamen, war er in einer schwierigen Lebenssituation, sowohl privat als auch sonst: Sein Kulturzentrum war aus politischen Gründen geschlossen worden. Seine Rettung angesichts all dieser Probleme waren seine Gedichte, seine Freunde und unsere Ehe. Das hielt ihn am Leben. Nachdem er mich kennengelernt hatte, veränderte sich sein Schreibstil: Er schrieb freier, emotionaler.
Befreundet mit Autoren, Philosophen und Wissenschaftlern
Er wurde immer bekannter und war mit sehr unterschiedlichen Autoren, Philosophen und Wissenschaftlern befreundet. Einige von ihnen lebten in Moskau. Der KGB hatte ihn immer im Visier. Er war mit Dissidenten befreundet und galt selbst als Dissident. Aber er war auch unter den Dissidenten ein Dissident, denn er war ein sehr unabhängiger Mensch. Eigentlich war er kein Dissident: Er kämpfte nur für Gerechtigkeit. Er wollte, dass politische Versprechen auch wirklich umgesetzt werden.
Der KGB warf ihm vor, antisowjetische Gedichte zu schreiben. Auch mich hat ein KGB-Mann bei der Arbeit besucht. Er wollte, dass ich erzähle, mit wem wir befreundet sind und worüber wir uns unterhalten. Ich habe mich geweigert. Daraufhin sagte er, dass er gedacht habe, er würde mit einem sowjetischen Menschen sprechen, doch nun wisse er, dass er mit einem antisowjetischen Menschen gesprochen habe. Danach durfte ich keine Dienstreisen mehr machen. Ich musste in Charkiw bleiben.
Die Perestroika war eine große Wende. Plötzlich wurden die Werke von Boris Tschitschibabin überall publiziert. Er erhielt Auszeichnungen, unter anderem 1990 den Staatspreis, die höchste Ehrung der Sowjetunion, und den Sacharow-Preis. Wir konnten nun viel reisen. Wir waren zweimal bei Kongressen in Israel. Irgendwann wurde Boris Tschitschibabin auch von einem Kölner Slawistik-Professor eingeladen, damals besuchten wir mehrere deutsche Städte, unter anderem Freiburg, München und Augsburg. Doch Boris Tschitschibabin blieb pessimistisch. Er hatte den Eindruck, dass die Reformen der Perestroika den einfachen Menschen nicht halfen. Und er ahnte sehr klar den sich verschärfenden russisch-ukrainischen Konflikt voraus, den Nationalismus, den er zutiefst ablehnte.
Auch gesundheitlich ging es ihm schlechter. Er hatte Lungenprobleme. Im Jahr 1994 hatte er Auftritte im ganzen Land. Am 12. November war seine letzte Lesung in Moskau, am 15. Dezember starb er. Damals war ich schon Rentnerin. In Charkiw ermöglichte eine Stiftung den Aufbau des Tschitschibabin-Zentrums. Das wurde meine neue Lebensaufgabe. Viele Schriftsteller und andere Künstler kamen zu unseren Veranstaltungen. Die Nationalitäten spielten keine Rolle. Seit Beginn des Krieges ist klar, dass wir es erst einmal nicht so einfach wieder öffnen können.
Nach Bayern und Freiburg
Im März 2022, kurz nach dem Beginn des Krieges, starb meine Schwester. Dann wurde ich gebeten, eine Bekannte bei ihrer Flucht zu begleiten. So ergab es sich, dass ich nach Bayern kam, in die Nähe von Nürnberg. Von dort aus konnte ich nach Freiburg ziehen und habe eine kleine Wohnung in einer Seniorenwohnanlage der Arbeiterwohlfahrt bekommen. Doch ich weiß nicht, wo ich sein möchte.
Die Flucht war nicht mein Ziel, und manchmal denke ich, sie war falsch. Ich sehne mich sehr nach meiner Katze Dusja, die von einer Nachbarin versorgt wird. Sie ist sehr groß und nicht so zahm, deshalb wäre es schwierig, sie nach Freiburg zu holen. Hier habe ich nun ein ganz anderes Leben. Es fällt mir schwer, mich hier einzuleben. Ich rette mich ins Lesen, zu den Büchern und zu den Freundschaften, die ich in der Israelitischen Gemeinde gefunden habe.
Dort gibt es einige, die wie ich aus der Ukraine geflüchtet sind. Wir sind auf derselben Wellenlänge. Meine Freunde sind überallhin verstreut. In Charkiw wäre ich ziemlich isoliert. Und ich käme nicht mehr gut zu meiner Wohnung im dritten Stock hinauf, denn es gibt keinen Fahrstuhl. Was ich aus Charkiw höre, ist schlimm: Es gibt viele Bombardierungen, die Versorgung mit Wasser und Strom ist schlecht. Ich frage mich: Was wird aus Charkiw werden?
Aufgezeichnet von Anja Bochtler