Der Berliner Verein »Zhivaja Pamjat« heißt zu Deutsch »Lebendige Erinnerung«. Die Mitglieder haben im Kindes- und Jugendalter den Krieg miterlebt, viele die Leningrader Blockade. Erinnern an 75 Jahre »Tag des Sieges« wollten die Veteranen auch in diesem Mai. Sie hatten für das besondere Jubiläum ein vielfältiges Programm geplant. »Aufgrund von Corona mussten wir alles absagen«, sagt Leonid Berezin. Der 91-Jährige hat den Verein vor sechs Jahren initiiert und ist bis heute Vorsitzender.
KAFFEE Seine Gruppe trifft sich für gewöhnlich regelmäßig im Russischen Haus in der Friedrichstraße. In einem holzvertäfelten Raum sitzen sie dann bei Kaffee, Tee und Selbstgebackenem zusammen, besprechen anstehende Exkursionen, debattieren zum Thema Antisemitismus oder laden Ehrengäste aus der Politik zu Gesprächen ein. Seit März spricht Leonid Berezin mit den Mitgliedern nur noch per Telefon; einigen wenigen, die einen Internetzugang haben, schreibt er E-Mails.
Ein feierliches Vereinstreffen im Russischen Haus, der Besuch von Konzerten, Kranzniederlegungen an sowjetischen Denkmälern, ein Empfang im Russischen Konsulat – all das habe noch kürzlich in seinem Kalender gestanden. »Seit März sind wir nun in Quarantäne«, sagt der gebürtige St. Petersburger.
Leonid Berezin bleibt dennoch Optimist. »Ich verliere nicht die Hoffnung, arbeite weiter. Zum Beispiel habe ich jetzt die Aufgabe, alle Vereinsmitglieder und deren Kontakte aufzulisten und dem Russischen Haus zu übergeben – es gibt zwar kein Treffen zum 9. Mai, aber wenigstens sollen die Veteranen Geschenke überreicht bekommen«, sagt er.
WUNDEN Das Kriegsende erlebte er in Sibirien. Er war dorthin aus Leningrad evakuiert worden, besuchte gerade die achte Klasse. »Wir haben uns natürlich alle gefreut, lagen uns in den Armen, aber wussten gleichzeitig, dass uns eine schwere Zeit bevorsteht. Wir hatten ja alles verloren. Das ändert sich nicht von einem Tag auf den nächsten«, sagt Leonid Berezin, der Mitte der 90er-Jahre als sogenannter Kontingentflüchtling nach Deutschland kam.
Auch Nona Rewzina lebt seit 1996 in Berlin, schweren Herzens habe sie ihre Heimatstadt St. Petersburg verlassen – oder Leningrad, wie sie noch heute sagt. Ihr Sohn war als Erster emigriert. »›Ich gehe überall hin, nur nicht nach Deutschland‹, waren damals meine Worte«, sagt die 84-Jährige. Jetzt lebt sie doch hier, hat Deutsch gelernt, fühlt sich im Lesen allerdings sicherer als im freien Sprechen. »Mir fehlt dafür die Pra-
xis, sogar mit meinem Arzt verständige ich mich auf Russisch«, sagt Nona Rewzina.
An das Kriegsende vor 75 Jahren erinnert sie sich noch genau. Per Radio erfuhren ihre Mutter und sie von der Kapitulation der Wehrmacht.
An das Kriegsende vor 75 Jahren erinnert sie sich noch genau. »Ich war neun Jahre alt, wir lebten auf dem Newskij-Prospekt, im Zentrum von Leningrad.« Per Radio erfuhren ihre Mutter und sie von der Kapitulation der Wehrmacht. »Alle Menschen rannten daraufhin auf die Straße, weinten, lagen sich in den Armen. Ein Moment, der mich noch heute zu Tränen rührt. Ich kann darüber nicht ruhig sprechen«, sagt Nona Rewzina.
Der Krieg hat unzählige Wunden bei ihr hinterlassen. »Den Winter 1942/43 habe ich im Bett verbracht, wir hatten nichts zu essen. Ich sollte meine Kräfte schonen. Als mich meine Mutter im März 1943 das erste Mal nach draußen führte, die Frühlingssonne schien, wurde ich ohnmächtig. Ich hatte keine Kraft. Ich höre ihren Schrei noch heute. Sie konnte mir nicht helfen, mich nicht aufheben, sie war selbst zu schwach. Und dann lagen da noch überall die Leichen am Wegesrand«, sagt die ehemalige Bibliothekarin mit zittriger Stimme.
RETTER Dann sei ein Mann vorbeigekommen, habe sie, die kleine Nona, auf den Arm genommen und in die Wohnung zurückgebracht. »Ich bin durch einen bitter-scharfen Geschmack in meinem Mund wieder zu mir gekommen, ich nehme an, das war Alkohol«, sagt die 84-Jährige. Den Namen ihres Retters kennt sie bis heute nicht.
Empfänge, Konzerte und Kranzniederlegungen fallen wegen Corona aus.
Aufgrund der Corona-Pandemie verbringt sie aktuell viel Zeit allein zu Hause. »Aber das macht mir nichts aus«, sagt Nona Rewzina, »ab und an kommt meine Tochter vorbei, bringt mir etwas zu essen oder Medikamente. Ich habe eine gute Freundin im Haus, mit der ich oft spazieren gehe – bei uns vor der Tür ist ein schöner Park mit einem See.«
Den 9. Mai verbrachte sie entweder mit den Vereinsmitgliedern oder bei ihrem Sohn, der nicht in Berlin lebt. »Jetzt ist das eben anders, aber wissen Sie, es gibt Schlimmeres im Leben. Während ich gerade mit Ihnen telefoniere, blicke ich auf meinen mit Blumen bepflanzten Balkon. Ich kann mich wirklich nicht beschweren«, sagt Nona Rewzina.
FRÜHLINGSSONNE Eduard Zaizev hatte in diesem Jahr eine Reise nach St. Petersburg geplant – dann kam Corona dazwischen. »Es ist wirklich eine schöne Stadt«, schwärmt der 82-Jährige. Nun harrt er wie so viele in seiner Berliner Wohnung aus.
Das Kriegsende hat er wie Nona Rewzina in St. Petersburg miterlebt. »Auch wir haben davon im Radio erfahren. Wir lebten nicht weit vom Newskij-Prospekt, dorthin haben wir uns dann auf den Weg gemacht«, sagt Eduard Zaizev. Er erinnert sich an unzählige Menschen, eine wärmende Frühlingssonne, an Tränen, an Umarmungen, an Musik – und an Süßigkeiten. »Ich liebe bis heute Süßes«, sagt er.
Die Leningrader Blockade musste er glücklicherweise nicht ganz miterleben. »Uns ist auf einem Boot 1942 die Flucht aus der Stadt gelungen«, sagt der Wahl-Berliner. Im Frühjahr 1944 kehrte er mit seiner Familie – seiner Mutter, Großmutter, seiner Cousine und einer Freundin – in die Stadt an der Newa zurück. Seinen Vater hatte er gleich zu Kriegsbeginn verloren. »Er meldete sich freiwillig, nach drei Monaten hörten wir nichts mehr von ihm«, sagt er.
Die Erinnerungen lassen ihn bis heute nicht los.
Erinnerungen, die ihn bis heute nicht loslassen, sind Bilder von Kriegsgefangenen, die auf der Straße in Kolonnen an ihm vorbeigeführt wurden. »Sie hatten alle nichts, waren in einem erbärmlichen Zustand«, sagt er. Es habe Menschen gegeben, die ihnen Brot zusteckten, und solche, die sich aus Wut und Hass auf sie gestürzt haben.
Seiner Großmutter habe er zu verdanken, dass er noch lebt. »Sie hat unseren Essensvorrat aufbewahrt und uns immer nur kleine Portionen ausgegeben«, sagt Eduard Zaizev. Hätte er sich vor lauter Hunger darauf gestürzt, wäre er womöglich gestorben. »Ich habe Menschen gesehen, die sich zu Tode gegessen haben.«
KONTAKT Sich am 9. Mai an die Vergangenheit zu erinnern und an die Menschen, die es heute nicht mehr gibt, fällt Rita Dorfman hingegen schwer. »Ich war sieben Jahre alt, als der Krieg zu Ende war. Ich wartete mit meiner Mutter am Bahnhof in Kalatschinsk, im Westen Sibiriens, auf die Rückkehr meines Vaters. Mein sehnlichster Wunsch, Hand in Hand zwischen meinen Eltern zu stehen, erfüllte sich allerdings nicht«, sagt die 82-Jährige und schluchzt. »Er kam nicht zurück.«
Zuletzt gesehen hatte sie ihn bei Kriegsausbruch. »Wir wurden aus St. Petersburg evakuiert. Auf dem Weg hinaus aus der Stadt – so erzählte es mir meine Mutter immer wieder – verabschiedete er sich von uns mit den Worten ›Pass auf dich und unsere Kinder auf‹«, sagt Rita Dorfman.
Seit 1995 lebt sie mit ihrem Mann Isaak in Berlin. Für gewöhnlich nehmen sie regelmäßig an Seniorentreffen der Jüdischen Gemeinde zu Berlin teil. Seit der Pandemie verlassen sie jedoch nur noch selten das Haus, zur Familie haben sie ausschließlich telefonischen Kontakt.
Normalerweise treffen sich die Veteranen im Klub der Gemeinde.
Optimistisch zu bleiben, fällt Rita Dorfman derzeit schwer. »Mein Mann ist an Demenz erkrankt, er ist fast blind.« Auch wenn er sich an vieles nicht mehr erinnere, die Kriegserlebnisse seien präsent und quälten ihn. »Mit ihm darüber zu sprechen, verbiete ich mir«, sagt sie.
Anders ist das bei Semjon Kleyman. Der 93-Jährige ist Vorsitzender des Berliner Kriegsveteranenklubs der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Sich gemeinsam an die historischen Ereignisse zu erinnern, ist ihm ein besonderes Anliegen. Den 9. Mai lässt er auch in diesem Jahr nicht aus – zwei Einladungen hat er bekommen. Erst stößt er in der Russischen Botschaft auf das 75-jährige Jubiläum an, dann folgt ein kleiner Empfang in der Ukrainischen Botschaft. Aufgrund des Virus seien nur er und sein Stellvertreter dabei, geplant waren weitaus mehr Teilnehmer.
PRJANIK Vom Kriegsende erfuhr Semjon Kleyman, der sich der Roten Armee anschloss und in Moldawien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn, Österreich und der Tschechoslowakei kämpfte, im österreichischen Mistelbach. Wenige Tage später wurde er 19 Jahre alt. Große Freude habe er empfunden, aber auch großen Schmerz. Fast seine gesamte Familie hat er in der Schoa verloren. Dass er überlebt hat, empfindet er noch heute als Wunder.
Für Valentina Galkina ist das Kriegsende hingegen nicht mit dem 9. Mai verknüpft. »Ich denke gern an das Neujahrsfest 1945 zurück, man schenkte uns Schulkindern eine Mandarine, eine Walnuss und einen Prjanik, das ist ein süßes Gebäck«, sagt die 84-Jährige, »das ist mein persönliches Kriegsende.« Sie wolle nicht die schlechten Bilder Jahr auf Jahr heraufbeschwören – den Verlust ihres Vaters, das zerbombte Leningrad, die Blockade, ihre Evakuierung. »Ich möchte mich freuen können«, sagt sie.