In den Büros des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe stehen die Telefonapparate nicht mehr still. »Wir sind überwältigt von der Solidarität und den Hilfsangeboten«, sagt Alexander Sperling, der Geschäftsführer des Landesverbandes. Bei den Gemeinden werden Sach- und Geldspenden abgegeben. Die Mitarbeiter in den Sozialabteilungen kommunizieren mit jüdischen Flüchtlingen, die sich entweder noch vor der ukrainischen Grenze befinden oder die Grenze bereits passiert haben. »Es besteht telefonischer Kontakt oder über soziale Medien«, sagt Sperling eilig ins Telefon, während weitere Telefone klingeln.
Ruhrgebiet In Dortmund sind die ersten jüdischen Kriegsflüchtlinge eingetroffen. Weitere werden erwartet. Die Vorbereitungen für deren Unterbringung, materielle und psychologische Versorgung laufen in den Mitgliedsgemeinden. Diese stehen mit den Stadtverwaltungen in engem Kontakt. Die Ereignisse überschlagen sich. Gemeinsam mit der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wurde ein Bus organisiert, der geflohene Frauen und Kinder am slowakisch-ukrainischen Grenzübergang abholte. In der Gemeinde werden Isomatten, Schlafsäcke, Decken, Kissen, Camping-Equipment, Hygieneartikel, Kleidung und Babynahrung gesammelt, die an die Grenze zur Ukraine geschickt werden sollen.
Hunderte Kilo Nudeln, Reis, Hygieneartikel sind in Recklinghausen zusammengekommen.
In Gelsenkirchen haben rund 250 der mehr als 320 Gemeindemitglieder ukrainische Wurzeln. Viele von ihnen stehen im permanenten telefonischen Austausch mit ihren Familien und Freunden in der Ukraine. Und bekommen zum Teil live mit, was im Land passiert. »Vor allem ist es so beklemmend, dass die große Angst der Menschen in den Kellern dann auch für uns alle so nah und direkt spürbar ist«, berichtet die Gemeindevorsitzende Judith Neuwald-Tasbach. Es wurde eine Taskforce gebildet, in die die Jüdische Gemeinde eingebunden ist. Zusätzlich bietet sie Unterstützung bei Übersetzungen an.
Valentina Shekun steht zwischen Hunderten Kilogramm Milchpackungen, Nudeln, Reis, Hygieneartikeln, Verbandsmaterial und Schlafsäcken, die die Mitglieder der Jüdischen Kultusgemeinde Kreis Recklinghausen in der Synagoge zusammengetragen haben. Sie hat selbst noch Familienangehörige im ukrainischen Tschernihiw. »Ich mache mir große Sorgen um meine Familie.« Abends zu Hause schaut sie auf ihr Smartphone, sieht die grünen Lichtpunkte der User aus der Familie, die online sind. »Dann weiß ich, dass sie leben. Aber allen geht es schlecht«, sagt sie. Gerade habe sie gehört, dass in der Nachbarschaft in Tschernihiw ein Wohnhaus zerbombt worden sei, mehrere Tote, darunter Kinder. Abends sitzt sie dann mit ihrer Tochter zu Hause, erschöpft, traurig, in Angst um ihre Familie in der Ukraine. »Tagsüber muss ich stark sein, um die Hilfe zu organisieren.« Hans-Ulrich Dillmann
Südbaden Wie helfen? Diese Frage stellen viele Gemeindemitglieder aus Südbaden, die Verwandte in der Ukraine haben, die flüchten wollen. Von den rund 300 Mitgliedern der Gemeinde in Emmendingen sind jeweils etwa die Hälfte Ukrainer und Russen. Eine Frau habe bereits das Enkelkind einer Freundin aus der Ukraine aufgenommen, und der Sohn eines anderen Mitglieds sei mit seiner Familie auf dem Weg zu seinem Vater in Emmendingen, erzählt Viktoria Dohmen, die Jugendbeauftragte der Emmendinger Gemeinde.
Sie selbst hat auch eine Cousine in der Ukraine, doch momentan wolle sie noch dort bleiben: »Ihr Sohn kämpft, und sie sitzt im Bunker.« Viktoria Dohmen rechnet damit, dass die meisten, die in der nächsten Zeit aus der Ukraine nach Emmendingen fliehen werden, zunächst bei Verwandten unterkommen werden, außerdem setzt sie bei der Unterbringung auf Unterstützung von der Stadtverwaltung. In der Gemeinde gebe es viele, die helfen wollen, sagt sie.
In Freiburg sind die ersten Geflüchteten aus der Ukraine bereits in der Landeserstaufnahme-Unterkunft für Flüchtlinge aufgenommen worden, erzählt Gemeindevorsitzende Irina Katz. Vier Familien mit etwa 25 Personen seien bisher eingetroffen. Viele seien auf dem Weg. Rund 80 Prozent der 700 Gemeindemitglieder stammen aus der Ukraine. Viele von ihnen würden nun die Telefonnummer der Gemeinde an ihre Verwandten und Freunde weitergeben, sagt Katz.
Die Kontakte der Gemeinde zum zuständigen Amt für Migration und Integration seien gut, ebenso die zur Caritas, dem Deutschen Roten Kreuz und der Deutsch-Ukrainischen Gesellschaft. Die Gemeinde helfe beim Einleben und bei Fragen zu Behörden. Anja Bochtler
Rhein/Main »Die Situation ist sehr neu – auch für uns«, sagt der Mainzer Gemeinderabbiner Rabbiner Aharon Ran Vernikovsky. Offiziell habe sich noch kaum jemand der Flüchtenden an die Gemeinde gerichtet. Gleichwohl habe er von einzelnen Gemeindemitgliedern gehört, »dass sie damit beschäftigt sind, Flüchtende aus dem Familien- und Bekanntenkreis in Mainz aufzunehmen«. Er versuche zu helfen, wo er kann, sagt Vernikovsky.
Auch seine Familie engagiert sich: Seine Frau und seine Schwiegermutter hätten es geschafft, durch Kontakt zu städtischen Behörden zehn bis zwölf Flüchtende aus Charkiw in einem Haus, das von einer Familie zur Verfügung gestellt wurde, für ein Jahr unterzubringen. »Ebenso hat meine Frau einen Lebensmittel-Transport für die Flüchtenden in die Karpaten mitorganisiert«, berichtet der Rabbiner.
»Es gehen viele Eigeninitiativen von russisch-ukrainischen Gemeindemitgliedern aus«, erzählt Nicole Faktor, Präsidentin von WIZO Deutschland. »Auch viele WIZO-Frauen bringen die Menschen aus der Ukraine unter und versorgen sie.« Eine von ihnen ist Julia Davidovski, deren Familie aus der Ukraine kommt. Die Ankommenden seien total erschöpft, berichtet sie: »Sie sind psychisch am Ende. Sie haben ganz normal gelebt und sind auf einmal komplett obdachlos.« Sie kämen alle mit einem kleinen Rucksack, erzählt Davidovski. »Sie sind glücklich, wenn sie ein paar Papiere, etwas Geld und Schmuck mitnehmen konnten. Kleidung haben sie nur für wenige Tage.« Viele fühlten sich verloren und wüssten nicht, wie es weitergeht: »Wir versuchen, sie zu beruhigen.«
Eine Familie stellt den Flüchtlingen ein Haus für ein Jahr zur Verfügung.
Es seien überwiegend Frauen und Kinder, die Männer dürften nicht ausreisen. »Wenn die Menschen jüdisch sind, werden sie sofort an die Gemeinde gemeldet, deren Beratungsstelle hilft ihnen dann. Sie leistet enorme Arbeit«, sagt Davidovski. »Wir stehen in engem Kontakt mit der Gemeinde und deren Familienzentrum.« Eugen El
Sachsen Nur etwa 670 Kilometer sind es von Görlitz bis zur polnisch-ukrainischen Grenze. Die Zerstörung der Städte, die verzweifelten, fliehenden Frauen und Kinder erschüttern – vor allem Menschen, die Angehörige und Freunde im Kriegsgebiet haben. Das gilt für zahlreiche Mitglieder in den jüdischen Gemeinden in Dresden, Chemnitz und Leipzig. Gut die Hälfte von ihnen haben Wurzeln in der Ukraine und auch nach 25 Jahren in Deutschland viele Kontakte dorthin.
Als wichtigster jüdischer Koordinator für die Ukraine-Hilfe fungiert auch in Sachsen die Zentralwohlfahrtsstelle (ZWST). Über ihr Hilfsportal erfasst sie Unterstützungsangebote und kanalisiert diese. Aktuell werden von der ZWST Evakuierungsbusse aus Moldawien organisiert, unter anderem für Menschen aus der Ukraine, die Angehörige in Deutschland haben. »Sie werden in Frankfurt vom Fachpersonal der ZWST in Empfang genommen, beraten und versorgt«, teilt die Wohlfahrtsstelle mit. »In den kommenden Tagen sind zahlreiche weitere Fahrten geplant, die so viele Menschen wie möglich evakuieren sollen und gleichzeitig Hilfsgüter und Medikamente zu den Menschen vor Ort bringen werden.«
Auch die Jüdische Gemeinde Chemnitz will über die ZWST helfen. »So haben wir die Gewissheit, dass unsere Spenden bei den jüdischen Organisationen in der Ukraine ankommen«, sagt Gemeindevorsitzende Ruth Röcher. Einige Gemeindemitglieder organisieren Transporte von Sachgütern bis in die Ukraine hinein. Auch diverse Vereine mit Kontakten zur Chemnitzer Gemeinde helfen mit, etwa der Verein AG Ukraine-Chemnitz-Europa, der sich schon seit Jahren um bedürftige Menschen in der Ukraine kümmert, speziell auch um krebskranke Kinder.
Ella Kriwulia gehört diesem Verein an und ist in der Chemnitzer Gemeinde als Sozialarbeiterin für die Ukraine-Hilfen zuständig. Sie ist erschüttert, wenn sie sieht, dass auch Krankenhäuser bombardiert werden und krebskranke Kinder in Kellern ausharren müssen: »Wir haben auch schon 2014 im ersten Ukraine-Krieg geholfen. Aber so etwas wie jetzt haben wir noch nie erlebt.«
Die Chemnitzer Gemeinde bereitet sich auf die Ankunft von Angehörigen ihrer Gemeindemitglieder vor. Für alle Ankommenden hat sie kleine Willkommenspakete unter anderem mit FFP2-Masken vorbereitet – Corona ist schließlich nicht vorbei.
Anlässlich von Purim will die Chemnitzer Gemeinde Spenden sammeln.
Auf ihrer Website hat die Gemeinde einen Aufruf zur Hilfe veröffentlicht, in dem sie zugleich den Überfall Russlands auf die Ukraine verurteilt. »Tränen fließen ohne Ende«, sagt Ruth Röcher. Anlässlich von Purim will die Chemnitzer Gemeinde Spenden für die Ukraine sammeln. Mut machen die vielen Hilfsangebote: Geldspenden oder Wohnmöglichkeiten. »Wir können das nur gemeinsam schaffen«, unterstreicht Ruth Röcher.
Auch die Jüdische Gemeinde zu Dresden betont den Zusammenhalt. »Alle helfen mit«, berichtet die Sekretärin der Gemeinde, Irina Lubenska. Geld wird entweder über die ZWST weitergeleitet oder von der Dresdner Gemeinde verwendet, um Medikamente zu kaufen. Sozialarbeiterin Elena Tanaeva organisierte Babysachen. Angehörige von zehn Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde zu Dresden sind angekommen. Elena Tanaeva ist im Dauereinsatz, um sowohl den jüdischen als auch den nichtjüdischen Angehörigen der Gemeindemitglieder bei den Formalitäten zu helfen. Vor allem die Unterbringung sei ein Problem, sagt Tanaeva, denn Wohnraum sei knapp und teuer.
Es werde damit gerechnet, dass sich die Zahl der Ankommenden aus den Kriegsgebieten noch wesentlich erhöht, sagte der Vorsitzende der Gemeinde, Michael Hurshell, bei einer Pressekonferenz am Montag in Dresden. Dies sei eine große Herausforderung für die Gemeinde. Die Stadt Dresden habe unterdessen ihre Unterstützung zugesagt, betont Hurshell. Etwa 95 Prozent der knapp 700 jüdischen Gemeindemitglieder in Dresden kämen aus der Ukraine oder Russland.
Vor allem müsse jetzt mehr die Einheit in der Gemeinde bewahrt werden, betonte die Vorsitzende des Landesverbandes Sachsen der Jüdischen Gemeinden, Nora Goldenbogen. Die wichtigste Frage für alle sei aber derzeit, wie geholfen werden könne. In allen sächsischen Gemeinden gibt es laut Goldenbogen Anfragen von Geflüchteten, oft auch über private Kontakte. Die Grenze des Krieges verlaufe zwischen autoritärem Regime und Demokratie, nicht zwischen Russen und Ukrainern, sagte Pawel Nedselskij, Vorstandsmitglied der Gemeinde.
In der Israelitischen Religionsgemeinde zu Leipzig, der größten jüdischen Gemeinde in Sachsen, hat etwa die Hälfte der Mitglieder ukrainische Wurzeln. Auch hier warten die Gemeindemitglieder auf die Ankunft von Angehörigen und sammeln, um den Kriegsbetroffenen zu helfen. Zum einen sammeln sie Informationen und zum anderen Spenden. Die Gemeinde nutzt ihre Netzwerke, um Ankommende über die aktuellen Anlaufstellen und Hilfsangebote zu beraten.
Über die ZWST haben sie in der vergangenen Woche Sachspenden in die Ukraine gebracht. Thomas Feist, Beauftragter der Sächsischen Staatsregierung für das jüdische Leben, bat die Gemeinde um die Entsendung freiwilliger Helfer als Dolmetscher für Ukrainisch oder Russisch an die polnisch-ukrainische Grenze.
Marina Charnis, die Frau des Leipziger Gemeinderabbiners, betont die große Hilfsbereitschaft der Gemeindemitglieder. »Es gibt auch sehr viele Menschen, die aus Russland stammen und schockiert und beschämt sind und helfen wollen.« Trotz unterschiedlicher Standpunkte zweifele keiner daran, »dass die Menschen leiden und dass ihnen geholfen werden muss«. Karin Vogelsberg