Ich wurde 1997 in Riga geboren. Wir haben bis 2000 in Lettland gelebt und sind dann als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen. Unsere erste Station war Würzburg. Frankfurt war die nächstgelegene Stadt, in der es eine jüdische Schule gab. Meinen Eltern war es sehr wichtig, dass ich auf eine jüdische Schule gehe. Traditionen haben für sie einen sehr hohen Wert.
In der Familie meines Vaters wurde Jiddisch gesprochen, und die Familie hat alle Traditionen und Riten eingehalten. Wir haben immer noch sehr viel Kontakt mit unseren Verwandten und besuchen sie regelmäßig. Sie sind alle in Lettland geblieben. Nur meine Eltern und ich sind nach Deutschland gegangen.
JOB Als mein Vater in der Nähe von Frankfurt einen Job fand, sind wir sofort umgezogen. Ich kam in den jüdischen Kindergarten im Westend und war bis zur neunten Klasse auf der Lichtigfeld-Schule. Danach war ich auf dem Frankfurter Bettina-Gymnasium. Anschließend habe ich eine Ausbildung zur Sozialassistentin mit Schwerpunkt Pädagogik gemacht. Jetzt bin ich kurz davor, meine zweite Ausbildung als Erzieherin abzuschließen.
Ich erinnere mich gern an die Lichtigfeld-Schule. Ich vermisse diese Zeit. Dort herrscht eine herzliche, familiäre Atmosphäre. Man kümmert sich umeinander und steht in einem sehr engen Austausch. Die Klassen sind im Vergleich zu den staatlichen Schulen klein. Es war eine sehr intensive Zeit.
Ich bin meinen Eltern dankbar, dass sie auf eine jüdische Erziehung bestanden haben.
Zum Abschluss fuhren wir mit der Klasse Anfang 2012 nach Israel. In Jerusalem hat es in jenem Winter geschneit. An dem Tag wollten wir die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem besuchen. Unser Busfahrer sagte: »Auf keinen Fall, wir fahren nirgendwo hin.« Alle Läden waren geschlossen. Wir haben uns damals aufgeregt, aber auch darüber gelacht. Es hat auch sehr viel geregnet. Das hat uns allen aber nichts ausgemacht. Wir waren total entspannt, zwar durchnässt, aber niemand hat sich beschwert oder genörgelt.
Diese Klassenfahrt hat uns, obwohl es der letzte Abschnitt der Schullaufbahn war, sehr zusammengeschweißt. Wir waren echt traurig, als wir zurückkamen.
JUGENDARBEIT Ich habe sehr früh mit Babysitten angefangen. Mein Vater arbeitete als Kantor in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und ist jetzt Kantor in Osnabrück. Wir waren daher sehr oft in der Synagoge, sowohl am Schabbat als auch an Feiertagen, und da sind ja auch ganz viele Kinder. Ich habe mich sehr gut mit ihnen verstanden.
Schon mit zwölf habe ich von der Studentenorganisation Jewish Experience ein Angebot bekommen, die Kinderbetreuung bei deren Seminaren, Schabbatonim und Gottesdiensten zu übernehmen. Das habe ich regelmäßig gemacht und fünf bis sieben Kinder betreut. Jewish Experience hat dann ein Familienangebot aufgelegt. Es fand immer sonntagvormittags statt. Es gab einen Workshop für Kinder. Da ging es um das Judentum, Traditionen und die Feiertage, aber auch ums Hebräischlernen. Währenddessen konnten die Eltern an einem Schiur von Rabbiner Shlomo Raskin teilnehmen. Ich war dort sehr lange tätig. So kam ich zur Arbeit mit Kindern.
Ich war bei vielen Machanot als Madricha dabei, wurde auch von kleineren Gemeinden für eintägige Daycamps im Sommer eingeladen.
Mit 16 begann ich, mich mit Jugendarbeit zu beschäftigen. Ich war bei vielen Machanot als Madricha dabei, wurde auch von kleineren Gemeinden für eintägige Daycamps im Sommer eingeladen. Schließlich kam das Angebot von der Jüdischen Gemeinde Karlsruhe, das dortige Jugendzentrum zu übernehmen. Nach ein paar Überlegungen habe ich beschlossen, mich diesem Abenteuer zu widmen. Ich habe fast fünf Jahre lang, bis Februar 2020, das Jugendzentrum geleitet.
Letztes Jahr bot mir die Ronald S. Lauder Foundation an, Rosch, also Leiterin eines Ferienlagers, zu werden. Ich habe das schon zweimal gemacht und sollte auch diesen Sommer ein Ferienlager leiten. Aber wegen der Corona-Krise wird das Ferienlager wohl nicht stattfinden. Sollten die Auflagen etwas gelockert werden, kann es sein, dass wir es wiederaufnehmen.
WERTE Ich bin wirklich sehr dankbar, dass meine Eltern auf eine jüdische Erziehung bestanden haben. Ich interpretiere meine jüdische Identität nicht dadurch, dass ich zum Beispiel einen Davidstern als Halskette trage oder laut hinausposaune, dass ich jüdisch bin. Es ist einfach ein inneres Gefühl, es gehört zu mir, es ist meine Identität. Wenn mich irgendjemand fragt, ob ich mich deutsch oder lettisch fühle, sage ich, dass ich mich jüdisch fühle. Ich verstecke mein Judentum nicht und gehe offen damit um. Ich kann mir mein Leben ohne das Judentum nicht vorstellen.
Ich habe mir persönlich das Ziel gesetzt, die Werte, die ich erhalten habe – also Nächstenliebe, Wohltätigkeit, sich gegenseitig zu helfen, füreinander da zu sein, aber auch stolz zu sein, dass man jüdisch ist, und es nicht zu verstecken –, auch den Kindern mitzugeben und deren Identität und Bewusstsein dafür zu stärken.
Ich merke es immer wieder, beispielsweise beim Mitzvah Day. Die Teilnehmer ziehen T-Shirts an und sind als Juden erkennbar. Während meiner Zeit in Karlsruhe habe ich bemerkt, dass nicht alle Eltern davon begeistert waren. Gleichzeitig hatten aber die Kinder gar kein Problem damit. Sie haben gesehen, dass ihnen nichts passiert und dass sie stolz darauf sein können, jüdisch zu sein. Es ist nicht ihr Hobby, sondern ihre Religion – aber nicht in dem Ausmaß, dass geschaut wird, ob sie Schabbat halten, koscher essen und sich spezifisch kleiden.
CORONA-KRISE Es geht um diese Überzeugung, das Gefühl, dass ich zu einem Volk gehöre und dass meine Anteilnahme am Volk wichtig ist. Es ist schön, wenn man die Gebote einhält, wenn man sich immer mehr engagiert und etwas findet, was einem liegt. Aber es reicht auch, zu wissen, dass man jüdisch ist und eine Verbindung zu einem großen Volk hat, das immer hinter einem stehen wird.
Anfangs habe ich nicht gedacht, dass die Corona-Krise so viele Einschränkungen des religiösen Lebens mit sich bringen würde. Man kann sehr viele Sachen auch allein oder von zu Hause aus machen. Man braucht nicht unbedingt immer eine Gemeinschaft oder die Gemeinde.
Aber man merkt einen sehr großen Unterschied. Es fehlt die moralische Unterstützung, diese Power, die dahintersteckt. Es gab sehr viele Online-Angebote von den Gemeinden, der ZWST, den Jugendverbänden und Jugendzentren. Das hat gezeigt, wie stark diese Gemeinschaft ist, dass man diese Räumlichkeiten nicht prinzipiell braucht.
Natürlich ist das ein anderes Level. Aber es reicht auch, die Bereitschaft zu zeigen, dass wir alle etwas gemeinsam machen, dass wir alle in einem Boot sitzen und uns von der Krise nicht unterkriegen lassen. Dass so vieles möglich gemacht wurde, finde ich faszinierend. Wenn man weiß, dass man das nur vorübergehend macht, ist es super. Dauerhaft würde ich mir schon wünschen, dass wir uns wieder alle gemeinsam treffen und wieder am normalen Leben teilnehmen können. Die Synagoge ist ja auch ein Treffpunkt.
Ich genieße es sehr, verschiedene Kulturen kennenzulernen.
Ich genieße es sehr, verschiedene Kulturen kennenzulernen. Ich versuche, jedes Jahr mindestens ein neues Land zu bereisen. Ich bin sehr weltoffen, was das angeht. Das fügt sich auch mit meinem Engagement. Ich habe an sehr vielen Trialogen teilgenommen, wo christliche, muslimische und jüdische Schüler zusammentreffen.
Mittlerweile mache ich bei dem Begegnungsprojekt »Meet a Jew« mit, das unter dem Dach des Zentralrats der Juden in Deutschland stattfindet. Ich finde es sehr spannend, sich auszutauschen und nicht unbedingt zu schauen, wo die Unterschiede liegen, sondern welche Gemeinsamkeiten wir haben.
ZUKUNFT Ich bin jetzt kurz vor dem Ende meiner Ausbildung. Ich werde anfangen, als Erzieherin in der Krippe der Frankfurter Gemeinde zu arbeiten. Es steht noch das Anerkennungsjahr an. Ich möchte gern Kindheitspädagogik studieren, um dann meinem weiteren Traum nachzugehen – zu unterrichten.
Von klein auf wünsche ich mir, Lehrerin zu sein. Ich bin sehr offen, was das Engagement in der Jugend- und Studentenarbeit angeht. Ich bin mir sicher, Gott hat schon einen Plan für mich, und es wird schon irgendein Angebot angeflogen kommen, mit dem ich mich wieder so intensiv beschäftigen werde wie mit dem Jugendzentrum. Ich freue mich darauf, aber konkret habe ich noch nichts in Aussicht.
Natürlich hoffe ich mittlerweile, dass ich bald einen Mann finde oder dass er mich findet. Ich hoffe, dass wir dann auch Kinder kriegen und eine jüdische Familie aufbauen können. Und ich hoffe, dass unsere Familie die gleichen Werte, die ich von meinen Eltern vermittelt bekommen habe, auch an die Kinder weitergeben kann, sodass es Generation für Generation weitergeht und man merkt, dass man etwas bewirken konnte.
Aufgezeichnet von Eugen El