Etwas mehr als die Hälfte meines Lebens bin ich nun Jüdin, aber Judith heiße ich schon seit meiner Geburt. Meine Eltern hatten damals bewusst einen hebräischen Namen gewählt. Einige Jahre zuvor hatten sie in den Vereinigten Staaten gelebt und dort in jüdischen Kreisen verkehrt. Als ich ihnen später ihren künftigen israelischen Schwiegersohn vorstellte und auch meinen Entschluss mitteilte, zum Judentum überzutreten, sagten sie: »Na ja, den passenden Namen hast du ja schon.«
Mein Leben war bis dahin nicht sonderlich geradlinig verlaufen. Zunächst hatte ich Erziehungswissenschaft, Germanistik und Psychologie studiert, habe das Studium aber abgebrochen, weil ich immer mal wieder längere Zeit im Ausland war und eine Weile in der Altenpflege gearbeitet habe.
Letztlich aber standen bei mir immer zwei große Interessen im Vordergrund: Kunst und Psychologie. Ich habe schließlich noch Grafikdesign studiert, und das habe ich auch abgeschlossen. Daneben jobbte ich bei einem israelischen Sicherheitsdienst in der zivilen Luftfahrt, was den Vorteil mit sich brachte, dass ich günstig verreisen konnte. Das Reisen ist nämlich eine weitere Leidenschaft von mir.
Heimat In dieser Zeit lernte ich meinen Mann und schließlich auch dessen Familie in Israel kennen. Da wir nun eine eigene Familie gründen wollten, bin ich zum Judentum übergetreten. Dies ist aber nicht nur ein formaler Schritt in Bezug auf künftige Kinder gewesen. Ich möchte nicht pathetisch klingen, aber im Judentum habe ich Heimat und Rückhalt gefunden und eine beeindruckende Lebensphilosophie, die ihre Grundlage im Nachfragen und Diskutieren hat.
Über viele Jahre habe ich als Grafikdesignerin gearbeitet. Solange meine Kinder noch klein waren, ging ich dem Beruf überwiegend freiberuflich nach, was gut miteinander vereinbar war. Irgendwann aber reichte mir das nicht mehr. Ich vermisste die Psychologie. Deshalb habe ich noch eine Ausbildung zur Kunsttherapeutin gemacht.
Dabei lernt man neben künstlerischen Techniken vor allem, was Kunst mit den Menschen macht, die sie ausüben. Im besten Fall bringt einen die Beschäftigung mit ihr in einen kreativen Flow, bei dem man wirklich loslassen und – falls nötig – auch vergessen kann. Dabei geht es gar nicht unbedingt um ein perfektes künstlerisches Ergebnis, denn wenn man Kunst zur Therapie nutzt, kommt es mehr auf den kreativen Prozess an. Wenn den jemand durchläuft, der zur Reflexion fähig ist, so ist natürlich eine andere Herangehensweise möglich als bei jemandem, der diesbezüglich eingeschränkt ist.
chug Auch ist die Arbeit mit Kindern oder mit Behinderten eine andere, als wenn man im klinischen Bereich tätig ist. In jedem Fall aber passieren während des kreativen Schaffensprozesses Dinge, von denen man nicht weiß, wo sie herkommen. Das sind Vorgänge, wie sie ja auch professionelle Künstler beschreiben. Passiert das während einer Gestalttherapie, versetzt es die Leute regelmäßig in Erstaunen. So etwas erlebe ich immer wieder, wenn sie sich trauen zu malen oder auch experimentelle Techniken zu benutzen.
Da stehen sie dann vor dem Ergebnis und staunen, dass so etwas aus ihnen herausgekommen ist. Man kann sich mit ihnen darüber unterhalten, man kann es aber auch erst einmal stehen lassen, und derjenige, der es geschaffen hat, darf einfach nur glücklich sein. Als ich mich damals entschloss, Kunsttherapie zu studieren, fiel mir ein Satz ein, den ich oft gehört hatte. Nämlich, dass Künstler nicht Kunsttherapeuten werden sollten und Musiker nicht Musiktherapeuten, weil sie einfach zu perfektionistisch sind.
Ich aber war Grafikerin und hatte mich nie als Künstlerin gesehen. Höchstens in der Fotografie, da habe ich eine künstlerische Leidenschaft, aber eben nicht in der Malerei.
Bevor ich anfing, als Kunsttherapeutin tätig zu werden, habe ich an der Heinz-Galinski-Schule, der jüdischen Grundschule in Berlin, gearbeitet. Ich habe zwei Söhne und eine Tochter, die diese Schule besuchten.
Damals hatte mir die Schulleitung angeboten, am Nachmittag eine Chug – eine Lehrstunde – zu leiten. Die von mir angebotene Kunst-AG stand unter dem Motto »Jeder ist ein Künstler!«. Die Kinder durften völlig frei kreativ tätig sein. Das lief parallel zum regulären Kunstunterricht, in dem ihre Arbeiten ja bewertet und benotet wurden.
Gemeinsam mit einer Kollegin habe ich für unsere AG festgelegt, dass wir die Arbeiten mit den Kindern zwar besprechen, aber eben gerade nicht bewerten würden. Es gab kein Gut oder Schlecht, kein Richtig oder Falsch, sondern jeder durfte sich als Künstler frei entfalten. Wir haben jedes Kind in seiner Kreativität gefördert, ohne jemals irgendeine »Perfektion« zum Maßstab zu nehmen.
pollock-Tag Gelegentlich haben wir auch Gemeinschaftsarbeiten erstellt und besondere Techniken gewählt, bei denen es schon gar nicht darauf ankam, dass das Ergebnis »hübsch« ist. Zum Beispiel haben wir einen Jackson-Pollock-Tag veranstaltet. Nachdem wir zunächst über sein Werk gesprochen hatten, wurde der ganze Raum mit Folie ausgelegt, und die Kinder durften klecksen. Das war fantastisch und hat allen richtig Spaß gemacht.
Diese Chug habe ich ein Jahr lang gemacht und dann ein Praktikum bei Omanut begonnen, einem Projekt, das von der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ins Leben gerufen worden war. Anderthalb Jahre später hat man mir, der Quereinsteigerin, die Leitung des Projekts angeboten.
Omanut ist das hebräische Wort für Kunst. In Berlin steckt dahinter eine künstlerische Tagesbetreuung für Menschen mit einer geistigen oder psychischen Behinderung, die im Moment zu keiner anderen Tätigkeit fähig sind. Entweder, weil sie schon zu alt für eine Werkstatt sind oder es aus verschiedenen Gründen nicht schaffen, feste Arbeitszeiten einzuhalten.
Unser Projekt ist für jüdische Menschen konzipiert, aber inzwischen haben wir auch einige nichtjüdische Leute dabei. Die Teilnahme ist freiwillig, eine große Zahl aber kommt regelmäßig jeden Tag. Andere erscheinen nur einmal in der Woche, weil sie neben der Arbeit in einer Behindertenwerkstatt gern noch etwas in einem jüdischen Umfeld machen wollen oder weil deren Eltern das für sie wünschen.
Wir haben eine Malwerkstatt, eine Holzwerkstatt und eine Kerzenwerkstatt. Inzwischen haben wir in Berlin-Tempelhof auch eine kleine Galerie – die »Jüdische Galerie Omanut«. Sie ist unsere Tür nach draußen, wo wir die Arbeiten von jüdischen Künstlern mit oder ohne Behinderung zeigen. Zu Alltagsthemen, aber auch zu verschiedenen Anlässen wie etwa den jüdischen Feiertagen setzen wir uns mit den Teilnehmern zusammen und sprechen über deren Inhalte und Bedeutung.
Am letzten Rosch Haschana setzten wir uns zum Beispiel mit dem Thema »Mein Wunsch für das neue Jahr« auseinander. Dafür haben wir einen riesigen Granatapfel auf eine große Pappe gemalt, und jeder hat einen handtellergroßen Granatapfelkern aus Papier bekommen, auf den man seinen ganz persönlichen Wunsch schreiben konnte. Die Blätter wurden aufgeklebt, und wir haben über die verschiedenen Wünsche gesprochen.
sowjetunion Das sind jedes Mal sehr rührende Momente, denn wie jeder Mensch auf dieser Welt haben natürlich auch diese behinderten Menschen Vorstellungen, Wünsche und Sehnsüchte. Unser Atelier ist ein geschützter Ort, in dessen familiärem Umfeld sie sich zu äußern trauen. Das gilt insbesondere auch für behinderte jüdische Menschen aus der früheren Sowjetunion, wo die Gesellschaft mit ihnen ja ganz anders umgegangen war.
Mit den Besonderheiten einer solchen Sozialisation gilt es für uns als Betreuer sensibel umzugehen. Und eine Voraussetzung, um sie zu öffnen, ist eben, dass wir zwischen Teilnehmern und Betreuern gar nicht erst eine Kluft entstehen lassen.
Man könnte sagen, meine Arbeit ist eine Mizwa, aber auf der anderen Seite profitieren nicht nur die Teilnehmer von dem, was wir machen, sondern auch die Betreuer. Wir arbeiten ja nicht wirklich therapeutisch, das ist in diesem Rahmen gar nicht möglich. Viele der Leute können auch nicht so reflektieren, dass eine klinische Kunsttherapie machbar wäre.
Dennoch ist es wunderschön, wenn man jemanden glücklich machen kann, oder wenn Menschen, die regelmäßig zu uns kommen, dadurch für ihr Leben eine Struktur gefunden haben. Manchmal verlieren wir sie auch, weil er oder sie sich inzwischen zutraut, einer regelmäßigen Arbeit nachzugehen. Ich jedenfalls kann mir keinen schöneren Beruf vorstellen als den, den ich bei Omanut ausüben darf.
Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg.