Reportage

Glück der Gemeinschaft

Zur Begrüßung gibt es Wodka, ein Stück Brot. Denn wenn man die Heimat für immer verloren hat, sind Rituale wichtig. Man kann sich daran festhalten und den flüchtigen Geist für einen warmen Moment manifestieren. Das ist besonders jetzt wichtig, da es auch in der neuen Heimat seit dem 7. Oktober zu schlimmen Szenen kam; und wichtig besonders in diesen Tagen, in denen sich der brutale Überfall Russlands auf die Ukraine zum zweiten Mal jährt.

Man kennt aus der Literatur John Irvings Hotel New Hampshire oder von den Eagles den Song »Hotel California«. Aber ein Hotel der vor Krieg und Zerstörung Geflüchteten? »Das haben mich meine Kinder auch gefragt«, erzählt Christian Hochgrebe, Staatssekretär für Inneres des Landes Berlin. Jeden Tag kam er mit ihnen auf dem Weg zur Kita hier vorbei. »Sie sagten: Papa, warum sind da so viele Kinder in diesem Hotel?«

Es sind jüdische Kinder, die mit ihren jüdischen Eltern und Großeltern aus der Ukraine geflüchtet waren und von der Jüdischen Gemeinde Chabad aufgenommen wurden, erklärte er ihnen. »Dann lass uns dahin gehen«, antworteten die Kinder. Seither spielten sie oft mit ihren ukrainischen Altersgenossen.

Trauriger Jahrestag

Hochgrebe trägt dies dem Publikum vor, das anlässlich dieses traurigen Jahrestages von Rabbiner Yehuda Teichtal eingeladen wurde, sich selbst ein Bild von der Situation zu machen, die heute gar nicht mehr so traurig scheint. Kinder springen zwischen Kameras und Stativen umher, malen, quengeln oder machen Quatsch. Hochgrebe nennt den Chabad-Rabbiner »lieber Yehuda« und den neuen Chabad-Campus in der Westfälischen Straße »einen Leuchtturm für Berlin«. Er sei stolz darauf, »dass jüdisches Leben wieder so stark in der Stadt vertreten ist«.

Auch Max Landero, Staatssekretär für Integration, Antidiskriminierung und Vielfalt, spricht. Er macht den Zuhörern Mut. Denn seine Familie sei vor Jahrzehnten ebenso als Geflüchtete nach Deutschland gekommen. »Es ist nicht einfach, eine neue Sprache zu lernen, und man muss viel an die Heimat denken. Aber es ist möglich, Arbeit und eine Wohnung zu finden.«

Rabbiner Teichtal ergreift dann das Wort. »Mit Gottes Hilfe werden wir euch immer unterstützen, das haben wir von Rabbiner Menachem Schneerson gelernt: Die Antwort auf Hass ist Liebe.« Und dann präsentiert Teichtal, ganz der gewitzte Medienprofi, der er ist, »The Lovestory«, und zwar einen jungen Mann und eine junge Frau aus Charkiw und Kiew, die sich in dieser Schicksalsgemeinschaft kennengelernt und jetzt verlobt haben. Und langsam wird klar: Niemand hier hat die Absicht, geschweige denn die Möglichkeit, wieder zurückzukehren. Die Vergangenheit liegt hinter ihnen, und das Hotel ist nur eine Zwischenstation. Ein Übergang. Und ihre Zukunft liegt in Deutschland.

Seit August 2022 sind die rund 300 Geflüchteten im Hotel

Auch für Hoteldirektor Christian Radau ist es eine ungewöhnliche Zeit. Seit August 2022 sind die rund 300 Geflüchteten in seinem Haus. Zunächst waren sie in einem Hotel am Kuʼdamm untergebracht, dann machte die Senatsverwaltung den Deal mit dem Luxemburger Immobilien-Unternehmen Aroundtown und dem Management der GCH Hotel Group. »Der Senat fragte bei den Eigentümern an, diese sagten zu«, weiß Radau zu berichten. Finanziert wird das Unterfangen vom Land Berlin. Bei dessen Jobcenter sind nun fast alle Bewohner gemeldet.

»Für mich ist es nach wie vor ein Hotel, und ich bin der Gastgeber. Ob mich jemand fragt, wie er zum Zoo kommt oder wie man einen Antrag am Amt ausfüllt, wenn ich helfen kann, dann ist das für mich das Gleiche.« Auch wenn seine Gäste ihn vor immer neue Herausforderungen stellen – wie etwa vor Sukkot mit der Frage, ob sie auf dem Parkplatz eine Laubhütte errichten dürften. Natürlich unterstützte er das Bauvorhaben. Es sei manchmal »etwas anstrengend«, mache aber auch großen Spaß. »Der Zusammenhalt ist enorm, alle helfen sich gegenseitig«, ist er begeistert.

Seit dem 7. Oktober allerdings steht das Hotel unter Polizeischutz. Einige Male hatten Leute aus vorbeifahrenden Autos antisemitische Sprüche gebrüllt. In der Silvesternacht schossen Jugendliche vor dem Haus mit Feuerwerkskörpern auf Fahrzeuge der Bewohner. Als einige auf den Balkonen erschienen, nahmen sie die Balkone ins Visier. Mehrfach zogen »Pro Palästina«-Demos am Haus vorbei, die Polizei musste mit einer Hundertschaft eine regelrechte Mauer vor dem Eingang bilden. »Da war die Angst hier schon groß«, so Radau.

Es sind jüdische Familien, die von der Gemeinde Chabad aufgenommen wurden.

Aber davon ist heute nichts zu spüren. Sauber gescheitelt und gekleidet turnt Mischa im Saal herum. Er ist eigentlich Englischlehrer. Er spricht ausgezeichnet Deutsch, Level B2, und bittet jeden, ihn zu verbessern. Doch bevor er nicht den Test für Level B1 abgelegt hat, kann er nicht in seinem Beruf arbeiten. Er ist jetzt Fotograf und Videograf. Die Jobs laufen gut. Er fotografiert für ein Autohaus, für Maccabi Berlin, die Jüdische Gemeinde, schneidet Hochzeitsvideos. »Das ist wichtig für das Selbstwertgefühl.«

»Deutschland hat viele großartige Frauen bekommen, die wären sonst nicht hier«, zwinkert er – und meint damit wohl seine Freundin Maria. Das ist auch so eine »Lovestory«. Mischa stammt aus Charkiw, er kam mit dem Auto nach Berlin; die Stadt hatte er bereits als Tourist besucht, seine Schwester lebt seit 2009 hier. Maria ist Innenarchitektin und stammt aus Krywyj Rih, lebte aber in Moskau. Während eines Besuchs in der Heimat brach der Krieg aus. Zusammen mit ihrem Bruder und der jüdischen Gemeinde Odessa floh sie nach Deutschland.

Kennengelernt hatten sie sich im Hotel. »Meine Großmutter sagte immer: Die größte Sünde ist die Undankbarkeit.« Seine Eltern und ein Bruder leben noch im Hotel, aber Mischa hat jetzt eine Wohnung im Westend. Marias Familie zog weiter nach Israel. Zurück wollen beide nicht mehr. Auch Diana (33) möchte bleiben. »Es ist noch nicht meine Heimat, aber es wird besser.« Sie stammt aus Mykolajiw. Eine der drei Töchter ist bereits in Berlin geboren. Ihr Mann war olympischer Kanute, ukrainischer Meister und arbeitete als Trainer. Jetzt hat er einen Minijob. Sie ist überzeugt: »Die Kinder haben hier eine gute Zukunft. In der Ukraine sind viele Städte zerstört.«

Die Kinder besuchen Schulen und Kitas, haben nachmittags Unterricht

Der Alltag im Hotel des Übergangs ist gut strukturiert. Die Kinder besuchen Schulen und Kitas, haben nachmittags Unterricht. Es gibt Torastunden, Diana und Maria helfen beim Challa backen; fast jeden Tag stehen abends Veranstaltungen auf dem Programm und am Sonntag Ausflüge mit den Kindern. »Das Leben hier ist teuer, die Wohnungen sind teuer, aber es ist ein Wunder, hier zu sein«, lautet Mischas Fazit.

Die meisten Bewohner haben bereits das B2-Level absolviert und schnell verstanden, dass die Sprache das wichtigste Element der Integration ist. Alles in allem überwiegt die Zuversicht, und Direktor Radau freut sich gar angesichts des Fachkräftemangels über möglichen Zuwachs aus der jungen Bewohnerschaft im Hotel- und Gastro-Gewerbe. Denn die GCH-Gruppe gründet gerade eine Akademie, »da sehen wir große Chancen«. Für viele ist das der Preis des Neuanfangs. Wie Mischa können sie oft nicht mehr in ihren erlernten oder erträumten Berufen arbeiten und müssen sich deshalb um­orientieren.

Ein Mann mit Hut wuselt umher, dessen Nähe für alle eine Selbstverständlichkeit scheint. Er stammt wie die Mehrzahl aus Dnipro im Osten und spricht auch Russisch. »Ein wichtiger Mann«, weiß Mischa zu berichten. Denn er hat eine Mission. »Jeden in die deutsche Gesellschaft, in das deutsche Leben zu integrieren. Der erste Schritt ist die Sprache. Der zweite Schritt ist es, einen Job, ein neues Leben zu finden«, sagt Elisha Pavlotzki (42). Er ist der Hauptrabbiner der 300 Menschen in diesem Hotel.

Und das ist sein Traum: »Wir wünschen uns ein Haus, in dem wir alle zusammen sein können.« Einen Ort für seine Gemeinde, ganz nach dem Vorbild von Chabad. Darum hat er die beiden Staatssekretäre persönlich gebeten: »Helfen Sie uns, ein Gebäude zu finden, damit wir unsere Kultur leben können.«

Ein Ritual an jedem Schabbat

Nach dem Kerzenzünden und den Gebeten geht es in den großen Saal – ein Ritual wie jeden Schabbat. Auch wenn die Ersten schon ausgezogen sind, Arbeit und eine Wohnung gefunden haben, am Schabbat kommen sie zu Fuß in die Synagoge und kehren ins Hotel zurück. Das Essen wird aufgetragen, Challa, Vorspeisen, Wein und Softdrinks stehen an den Tafeln bereit. »Wir weinen zusammen, wir lachen zusammen«, sagt Pavlotzki. »Was uns geholfen hat, ist der Zusammenhalt.«

An den Wänden hängen Mischas Bilder. Fotografien von Feiern in dieser Zeit des Übergangs. Sukkot und Pessach oder Lag BaOmer. In der Mitte hängt ein Porträt des Brooklyner Rebbe Schneerson, des Gründers der Bewegung des Lubawitscher Komitees. Der alte Mann lächelt gütig. Die Kinder sind fröhlich, Mütter und Väter ausgelassen, die Rabbiner genehmigen sich ein Glas. »Komm und iss mit uns, du musst diesen Geist hier spüren«, fordert Elisha Pavlotzki auf. Seine Augen leuchten.

Es gibt Borschtsch nach ukrainischer Art – einen Gruß aus der Heimat. Man kann die Wehmut spüren. Aber man spürt auch das Glück, das Glück der Gemeinschaft.

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