Graphic Novel

Gezeichnete Erinnerungen

Die Geschichte beginnt bunt. Als schöne Erinnerung an das rumänische Czernowitz kurz vor dem Krieg. Für ihr reiches jüdisches Leben wurde die Stadt in dieser Zeit gerühmt als »Jerusalem am Pruth«.

Der kleine Herbert läuft vorbei an stolzen Bürgerhäusern und wundert sich über die quietschgelben Autobusse. Sein Großvater nimmt ihn mit in die prächtige Reformsynagoge und erklärt ihm die Grundlagen der jüdischen Religion. Neben Herbert erzählt die Geschichte auch von Mimi und zwei Jungen namens Josyf.

protagonisten Die vier Kinder wachsen in einer blühenden Stadt, einem Schmelztiegel von Nationalitäten, Ethnien und Religionen auf. Doch je schlimmer das Leben der Protagonisten mit der Zeit wird, umso düsterer werden die Farben. 1941 beginnt auch in Czernowitz die Zeit der Morde, der Ghettos und der Deportationen der jüdischen Bevölkerung. Familien zerreißen. Die vier Kinder sind mittendrin.

Ihr Schicksal schildert die Graphic Novel Blindekuh mit dem Tod auf 112 Seiten. »Der Comic ist ein Spiegel dieser Zeit in Czernowitz«, sagt Matthias Richter vom Projekt »Erinnerung leben« der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, engagierter Ideengeber und Motor bei der Entstehung der Graphic Novel in ukrainischer und deutscher Fassung.

»Dem Buch liegen vier wahre Geschichten zugrunde. Wir konnten sie anhand von sehr detaillierten Interviews rekonstruieren«, erzählt Mykola Kuschnir, Leiter des Museums für jüdische Geschichte und Kultur der Bukowina in Czernowitz, das heute in der Ukraine liegt, bei der Buchvorstellung in Düsseldorf. Das einstige Vorschulkind, das vor mehr als 80 Jahren seinen ersten Blick in die Synagoge warf, saß dabei neben ihm: Herbert Rubinstein, seit Jahrzehnten ein aktives Mitglied der Düsseldorfer Gemeinde. Rubinstein war es auch, der mit den Anstoß zu dem ambitionierten Projekt gab.

ukraine-reise 2016 hatten Düsseldorfer Gemeindemitglieder bei einer Ukraine-Reise im Rahmen des multinationalen Projekts »Erinnerung lernen« das Holocaust-Gedenkzentrum Babyn Jar und auch die Stadt am Pruth besucht. Dabei lernten sie das Team des Museums kennen. Gemeinsam überlegten sie, wie die Erinnerungen an das Schicksal der jüdischen Familien von Czernowitz an die heranwachsende Generation weitergegeben werden können. Speziell die Elf- bis 13-Jährigen hatten Zeitzeugen und Museumsmitarbeiter im Blick.

Das Buch wird in der Ukraine in der Jugendbildung genutzt.

So entstand die Idee zu einem Comic mit »Überlebensgeschichten«. Ein solches Projekt hatte es in der Ukraine noch nicht gegeben. Entsprechend war es zu Anfang durchaus umstritten. »Ist es angemessen, die Zeit des Holocaust in einem Comic darzustellen? Viele Leute sahen das als Provokation«, erinnert sich Museumsleiter Kuschnir. Die Lösung bestand darin, keine schnelllebige Unterhaltungslektüre zu planen, sondern eine Art jugendgerechten grafischen Roman, der auch ein leicht verständliches Geschichtsbuch ist.

Die Handlung spielt auf zwei Ebenen. Den Rahmen bildet ein Besuch der Schüler Erika und Oleksii im Jüdischen Museum. Die 13-Jährigen lernen die Geschichte der vier Protagonisten und ihrer Stadt in den Kriegsjahren kennen. Sie lesen die Erinnerungen von Herbert, Mimi und der beiden Josyfs mit und melden sich alle paar Seiten selbst zu Wort. Unter anderem besuchen sie die Schauplätze, die im damaligen Leben der Protagonisten eine wichtige Rolle gespielt haben, zum Beispiel Häuser im ehemaligen Ghetto.

Schritt für Schritt erfahren die Schüler, wie ihre Heimat damals zu einem Ort der Gräuel und Verbrechen wurde – und sie fiebern mit, wie die vier quasi »Blindekuh mit dem Tod spielen«. Ergänzt werden die Zeichnungen durch Fotos, Zeitungsausschnitte, Briefe und Abbildungen von Ausweisen und historischen Dokumenten aus dem Bestand des Jüdischen Museums. Ein Stadtplan und ein Glossar runden das Bild ab. Das Autorenteam bestand aus Mykola Kuschnir, seiner Kollegin Anna Yamchuk und Natalya Herasym, der Leiterin des Zentrums für Lehrerfortbildung in Czernowitz. Die Zeichnungen stammen von der Grafikerin und Illustratorin Anna Tarnowezka aus Czernowitz. In Düsseldorf erzählte die 39-Jährige, dass ihr Wunsch, Grafikerin zu werden, in ihrer Jugend durch einen Holocaust-Comic geweckt worden sei.

WORKSHOPS Das Jüdische Museum gab Blindekuh mit dem Tod zunächst in einer ukrainischen Fassung heraus. Es wird in der Ukraine in der Jugendbildung genutzt. Im Kriegsjahr 2022 fanden in der Ukraine 60 Workshops mit 1200 Jugendlichen statt. Herausgeber der jetzt erschienenen deutschen Ausgabe ist der »Verein zur Förderung der Städtepartnerschaft Düsseldorf-Czernowitz«. »Das Buch ist eine eindringliche Mahnung, entschieden gegen jegliche Form von Ausgrenzung und Unterdrückung vorzugehen. Zugleich ist es ein Symbol der freundschaftlichen Verbundenheit von Czernowitz und Düsseldorf«, sagte Düsseldorfs Oberbürgermeister Stephan Keller.

Wenige Tage nach dem russischen Überfall auf die Ukraine wurden Düsseldorf und Czernowitz Partnerstädte. Das Projekt wurde gefördert durch das Auswärtige Amt im Rahmen der Förderung von Zivilgesellschaft in den Ländern der östlichen Partnerschaft und der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf.

Anna Yamchuk, Mykola Kuschnir und Natalya Herasym: »Blindekuh mit dem Tod«. Edition Virgines, Düsseldorf 2023, 112 S., 20 €

Interview

»Wir reden mehr als früher«

Rabbiner Yechiel Brukner lebt in Köln, seine Frau Sarah ist im Herbst nach Israel gezogen. Ein Gespräch über ihre Fernbeziehung

von Christine Schmitt  13.03.2025

Bundeswehr

»Jede Soldatin oder jeder Soldat kann zu mir kommen«

Nils Ederberg wurde als Militärrabbiner für Norddeutschland in sein Amt eingeführt

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Hamburg

Hauptsache kontrovers?

Mit der Verleihung der Buber-Rosenzweig-Medaille wurde die »Christlich-Jüdische Zusammenarbeit 2025 – 5785/5786« eröffnet. Die Preisträger sind in der jüdischen Gemeinschaft umstritten

von Heike Linde-Lembke  13.03.2025

Purim

Schrank auf, Kostüm an

Und was tragen Sie zum fröhlichsten Fest im jüdischen Kalender? Wir haben uns in der Community umgehört, was in diesem Jahr im Trend liegt: gekauft, selbst gemacht oder beides?

von Katrin Richter  13.03.2025

Feiertag

»Das Festessen hilft gegen den Kater«

Eine jüdische Ärztin über Alkoholkonsum an Purim und die Frage, wann zu viel wirklich zu viel ist

von Mascha Malburg  13.03.2025

Berlin

Persien als Projekt

Eigens zu Purim hat das Kunstatelier Omanut ein Wandbild für die Synagoge Pestalozzistraße angefertigt

von Christine Schmitt  13.03.2025

Wilmersdorf

Chabad Berlin lädt zu Purim-Feier ein

Freude sei die beste Antwort auf die aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, sagt Rabbiner Yehuda Teichtal

 12.03.2025

Purim

An Purim wird »We will dance again« wahr

Das Fest zeigt, dass der jüdische Lebenswille ungebrochen ist – trotz der Massaker vom 7. Oktober

von Ruben Gerczikow  12.03.2025

In eigener Sache

Zachor!

Warum es uns besonders wichtig ist, mit einer Sonderausgabe an Kfir, Ariel und Shiri Bibas zu erinnern

von Philipp Peyman Engel  11.03.2025 Aktualisiert