Die Umwälzungen, die wir im Laufe der vergangenen zwölf Monate erleben mussten, haben uns ohne Vorwarnung und mit voller Wucht getroffen. Anstatt das Jahr in ruhigem Fahrwasser zu durchqueren, navigieren wir seit Monaten durch einen heftigen Sturm, dessen Ende nur sehr entfernt abzusehen ist.
Sie alle erinnern sich noch an die Tage im Frühjahr, die sich in unser kollektives Gedächtnis eingebrannt haben. Jeder von uns kann seine eigene Geschichte davon erzählen, wie das »neuartige Coronavirus« von der kleinen Zeitungsmeldung erst zum Tagesgespräch, dann zum Grund für ernste Besorgnis und schließlich zum alles bestimmenden Thema wurde, das das gesellschaftliche Leben lahmlegte und Pläne, Tagesabläufe und ganze Lebensentwürfe durcheinanderbrachte. Innerhalb weniger Wochen wurde 2020 zu einem Jahr, das in den Geschichtsbüchern besonders vermerkt werden wird.
Auch wenn wir alle auf die Erfahrung dieser geschichtsträchtigen Monate gern verzichtet hätten: Es galt, aus einer unsicheren und kaum einzuschätzenden Situation das Beste zu machen. Darüber, wie gut dies unserer Münchner Kultusgemeinde gelungen ist, wurde schon oft gesprochen und geschrieben, auch von mir.
krisenmanagement Es darf aber angesichts der monumentalen Leistung in den vergangenen Monaten noch einmal wiederholt werden: Was die Mitarbeiter, die zahlreichen Freiwilligen und das gerade erst begründete Krisenmanagement-Team in der unendlich schwierigen Corona-Zeit vollbracht haben, ist kein bisschen weniger beispiellos als die Herausforderung, der wir uns gegenübersahen.
Es galt, aus einer unsicheren und kaum einzuschätzenden Situation das Beste zu machen.
Unsere Gemeinde ist an der gewaltigen Aufgabe gewachsen, und das macht mich stolz – auch jetzt noch, da diese Herausforderung uns erneut begegnet. Zugleich hoffe ich inständig, dass wir alle in diesem schwierigen Winter nunmehr in der Lage sind, mit den notwendigen Einschränkungen klüger und zielgerichteter umzugehen. Das Gemeindeleben beispielsweise konnte bislang trotz vieler Änderungen zumindest in Grundzügen weitergeführt werden; das ist ein bedeutender Teilerfolg.
Andernorts begegnen wir hingegen Problemen, die sich unserem Zugriff entziehen. Mit welcher Wut etwa die Corona-Krise im zurückliegenden Jahr die Untiefen von Desinformation und Verschwörungstheorien aus den dunklen Ecken des Internets auf unsere Straßen und Plätze katapultiert hat, hat zumindest mich schockiert.
Die Zahl der Menschen, die sich ausgerechnet mitten in einer nationalen Notlage von der gemeinsamen Realität unserer Gesellschaft abkoppeln, die die Institutionen unseres demokratischen Staates ablehnen und die in all ihrem Halbwissen und Geraune in großem Stil Motive des Judenhasses verbreiten, ist erschreckend.
»Querdenken« Vom sechszackigen Stern mit der bizarren Aufschrift »Ungeimpft« über Vorwürfe, »die Juden«, der Staat Israel oder einzelne jüdische Philanthropen seien Urheber oder Nutznießer der Pandemie: Nichts ist zu absurd, kein Vorwurf zu weit hergeholt, keine antisemitische Lüge zu dreist, als dass »Querdenken« sie nicht öffentlich wiederholen würden. Dass diese Bewegung inzwischen ins Visier des Verfassungsschutzes geraten ist, kann ich daher nur begrüßen.
Den Grundstein für eine solche groß angelegte Entfremdung von der Demokratie haben auch Parteien wie die AfD gelegt, die das Vertrauen in den freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat seit Jahren untergräbt und die selbst noch in dieser Situation gezielt Misstrauen gegenüber dem »System« schürt. Es nimmt leider nicht wunder, dass in diesem aufgeheizten und verunsicherten gesellschaftlichen Klima Extremismus jeder Spielart besonders gut gedeiht. Anschläge wie in Hanau, aber zuletzt auch in Dresden, Hamburg, Paris, Nizza und Wien haben gezeigt, wie groß die Bedrohung für die freie Gesellschaft ist, in und von der die jüdische Gemeinschaft lebt.
In München sind wir von solchen Vorfällen zum Glück weitgehend verschont geblieben – auch wenn der Übergriff etwa auf Rabbiner Brodman im Sommer uns erneut gezeigt hat, dass jüdisches Leben auch in unserer Stadt noch längst nicht die Selbstverständlichkeit ist, als die es in politischen Reden gerne beschrieben und herbeigewünscht wird.
Mehr noch als in den Vorjahren geht unser Blick angesichts aktueller Entwicklungen nach vorn.
Selbstverständlich wird jüdisches Leben auch so lange nicht sein, wie es lediglich unter Polizeischutz und mit besonderen Sicherheitsmaßnahmen existieren kann. Genau das bleibt aber auf absehbare Zeit der Fall: Wie es einer jüdischen Gemeinde ohne Polizisten vor der Tür ergeht, haben die Gottesdienstbesucher in Halle im Oktober vergangenen Jahres erfahren müssen. Der Anschlag von damals steht uns allen noch immer sehr deutlich vor Augen.
Grundfesten Gerade in solchen Zeiten täte ein Gedenken not, das an die Grundfesten des demokratischen Staates erinnert und als politisch-gesellschaftliche Erdung fungieren kann. Dass ein solches gemeinsames Gedenken in diesem Jahr infolge der Pandemie kaum möglich war, zählt für mich zu den tragischen Tiefpunkten eines überaus schwierigen Jahres. Ich selbst konnte mich nur mühevoll damit abfinden, das Gedenken zum Jahrestag des 9. November 1938 in diesem Jahr rein digital durchzuführen – doch die Vorschriften zum Schutz der Gesundheit ließen uns keine andere Wahl.
Mehr noch als in den Vorjahren geht unser Blick vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen daher nach vorne. Wir alle hoffen, dass die zur Verfügung stehenden Impfstoffe das Gespenst Corona im Laufe des Jahres 2021 vertreiben und Stück für Stück wieder ein normales Leben möglich machen. Bis es so weit ist, bleiben Verantwortungsbewusstsein und gegenseitige Rücksicht für uns alle das Gebot der Stunde.
Die wenigen positiven Aspekte des zu Ende gehenden bürgerlichen Jahres wollen wir für die Zukunft bewahren: den gewachsenen Zusammenhalt, die große Hilfsbereitschaft, die Flexibilität. Damit gehen wir in ein neues und hoffentlich einfacheres Jahr 2021. Nicht nur für unsere jüdische Gemeinschaft, sondern für unsere gesamte Gesellschaft hoffe ich von ganzem Herzen auf die Rückkehr in ruhiges Fahrwasser.