Freiburg

Geschichten einer Schule

In dem Archiv von Wiltrude Hene-Lavelle findet sich dieses Foto von einem Ausflug jüdischer Kinder 1939. Foto: Wiltrude Hene-Lavelle

Die Geschichte von Ronia Beecher lässt Gioia Roberto (15) nicht los. Sie hat in der Geschichtswerkstatt der Lessing-Realschule in Freiburg davon erfahren und schon mehrere Vorträge darüber gehalten. Seit drei Jahren arbeitet Gioia Roberto in der Geschichtswerkstatt mit und weiß inzwischen, dass auch ihre eigene Oma und ihre Uroma als Sinti in Konzentrationslagern waren.

»Ich will nicht, dass diese Menschen vergessen werden«, sagt Gioia. »Ohne die Geschichtswerkstatt wüsste ich wenig über den Nationalsozialismus.« Ihre Oma hat lange über ihre traumatische Kindheit geschwiegen. Dass rechtsextreme Tendenzen zunehmen, macht Gioia besorgt. Von den zurzeit neun Jugendlichen in der Geschichtswerkstatt haben noch drei andere Sinti-Wurzeln, genau wie Gioia. Dazu passt das neue Projekt zu Sinti und Roma im Nationalsozialismus. Doch natürlich bleibt auch die jüdische Geschichte weiter ganz zentral.

Zeitzeugin Gioia hatte herausgefunden, dass Ronia Beechers Vater Lehrer an der Zwangsschule für jüdische Kinder war, die im Nationalsozialismus an der Lessingschule untergebracht war. Ronia Beecher ist heute Mitte 80 und lebt in den USA. An der Lessing-Realschule hat sie erzählt, wie sie als Kleinkind mit ihrer Familie ins Lager im südfranzösischen Gurs und später ins Lager Rivesaltes kam. Eine Schweizer Kinderhilfsorganisation befreite sie.

Das sind die neuesten Erkenntnisse, die die Geschichtswerkstatt in Freiburg gewonnen hat. Doch alles hat vor mehr als 20 Jahren mit einer Begegnung von zwei Frauen begonnen: Rosita Dienst-Demuth, heute 67 Jahre alt, war damals Geschichtslehrerin an der Lessing-Realschule. Else Pripis, 1923 als Else Geismar geboren, musste im Nationalsozialismus die sogenannte Zwangsschule für jüdische Kinder an der Lessingschule besuchen. Jahrzehnte später war sie zu einer Gedenkveranstaltung ins südbadische Breisach gekommen.

Eine Zwangsschule an ihrer Schule? Rosita Dienst-Demuth hatte davon bis zu diesem Zeitpunkt nichts gewusst. Nach der Begegnung mit Else Pripis gründete sie die Geschichtswerkstatt, die nun seit 20 Jahren die bis dahin verdrängte Epoche erforscht. Das Projekt wurde inzwischen mehrfach ausgezeichnet – zuletzt mit dem Rahel-Straus-Preis der Landesarbeitsgemeinschaft Baden-Württemberg des Vereins »Gegen Vergessen – Für Demokratie«.

projekt Die Geschichtswerkstatt: Das ist, neben vielen über die Jahre immer wieder wechselnden Jugendlichen, vor allem Rosita Dienst-Demuth. Obwohl sie seit 2017 pensioniert ist, macht sie weiter, ehrenamtlich. Mit dabei ist ihre einstige Schülerin Melissa Maggiore, die Geschichte studiert hat. Inzwischen sind auch zwei Lehrerinnen der Schule eingestiegen, die das Projekt langfristig weiterführen wollen.

Die jüdische Freundin zwang der Klassenlehrer, in der hintersten Reihe zu sitzen.

Rosita Dienst-Demuth treiben viele Erlebnisse zu ihrem Engagement an. Zum Beispiel die Erfahrung, die sie als 16-Jährige im Schüleraustausch machte. Aus dem kleinen Bollschweil zehn Kilometer südlich von Freiburg zog es sie Anfang der 70er-Jahre nach Südkalifornien. Dort lernte sie eine Holocaust-Überlebende kennen.

Die Frau erzählte ihr über ihre Zeit im Konzentrationslager Auschwitz – mit ihren eigenen Töchtern hatte sie darüber nie gesprochen.

Familie Das war eine der Erfahrungen, die Rosita Dienst-Demuth sehr früh tief geprägt haben. Auch mit der Geschichte ihrer eigenen Familie hat sie sich auseinandergesetzt: Der Großvater sei als Bürgermeister der Zentrumspartei von den Nationalsozialisten abgesetzt worden, ein Onkel sei bei der SA gewesen, erzählt sie. Und dann die Mutter: Sie hatte eine jüdische Freundin, die vom Lehrer gezwungen wurde, allein in der letzten Reihe zu sitzen. Später konnte sie emigrieren.

Die neue Freundin der Mutter war eine Führerin beim »Bund deutscher Mädel«. Ihre Mutter habe später nicht viel darüber gesprochen, erzählt Rosita Dienst-Demuth. Sie – als Tochter – habe ihre Familie zur Erinnerungsarbeit angeregt: »Wir haben uns dabei gegenseitig unterstützt.« Und irgendwann kam die jüdische Freundin der Mutter zu Besuch.

An die Vergangenheit anzuknüpfen und Menschen zusammenzubringen – das ist Rosita Dienst-Demuths großes Talent. In den vergangenen 20 Jahren hat sie gemeinsam mit ihren Schülerinnen und Schülern mit großer Energie 30 Biografien von den mehr als 60 einstigen ehemaligen Schülern der Zwangsschule erforscht.

freundschaften Mit allen war sie in Kontakt, über Post, E-Mails oder telefonisch. Viele kamen, zerstreut über die ganze Welt, noch einmal zurück nach Freiburg und als Zeitzeugen an ihre alte Schule. Sechs von ihnen leben noch. Rosita Dienst-Demuth ist mit ihnen in Verbindung, es entstanden einige Freundschaften.

Else Pripis Bruder Alfred sah keinen Ausweg und nahm sich mit 18 Jahren das Leben.

Die Schicksale der einstigen Zwangsschüler sind sehr unterschiedlich: Ein Beispiel dafür sind Else Pripis und ihr zwei Jahre jüngerer Bruder Alfred. Als junges Mädchen begann Else Geismar nach einem Jahr in der Zwangsschule 1937 eine Ausbildung zur Näherin, musste dann als Haushaltshilfe von Südbaden nach Köln umziehen und wurde dort Zwangsarbeiterin in einer Rüstungsfabrik.

Durch ihre Kenntnisse als Schneiderin überlebte sie nach ihrer Deportation ins KZ Theresienstadt in der Frauenschneiderei. Nach dem Krieg lernte sie in einem Lager für »displaced persons« ihren Mann kennen und lebte später mit ihm und ihren Kindern in Jerusalem.

Schweiz Ihren Bruder Alfred hatte sie bald nach der gemeinsamen Zeit an der Zwangsschule aus den Augen verloren: Die Eltern hatten ihn bei einem Onkel in der Schweiz in Sicherheit bringen wollen, doch ihm wurde die Einreise verweigert. Er musste als 15-Jähriger allein nach Berlin ziehen, um eine Ausbildung zum Schlosser zu beginnen. Sein Abschlusszeugnis war vorzüglich.

Dann kam die Einberufung zur Zwangsarbeit und 1943 der Deportationsbefehl nach Auschwitz. Alfred Geismar entschloss sich zu einem schnellen Tod und nahm sich mit 18 Jahren das Leben.

Von den 60 Schülern der Freiburger Schule überlebten 56.

Damit war er einer von nur vier der mehr als 60 ehemaligen Schüler, die nicht überlebt haben. Alle anderen konnten gerettet werden – die meisten von Helfern aus dem Ausland: Kindertransporte nach England oder in die Schweiz ermöglichten manchen eine rechtzeitige Ausreise, und die von Frankreich und der Schweiz aus agierende Organisation »Ouevre des Secours aux Enfants« holte Kinder aus dem Lager im südfranzösischen Gurs, wohin die jüdische Bevölkerung Südbadens ab dem 22. Oktober 1940 deportiert worden war.

Lebensretter Auch in der direkten Umgebung gab es einige wenige Retter: Der Freiburger Polizist Fritz Schaffner versorgte die Familie der Schüler Karl und Anneliese Judas, mit deren Vater er befreundet war, in Freiburg mit Lebensmitteln, bis sie emigrieren konnten. Und die Bäuerin Agathe Burgert in Bollschweil nahm die Schülerin Nelly Heilbrunner mitsamt ihrer Familie eine Zeit lang bei sich auf.

Mithilfe des Ururenkels von Agathe Burgert war die Erforschung der Hintergründe dieser »stillen Helden« in Gang gekommen: Er hatte im Unterricht Rosita Dienst-Demuth von seiner Ururgroßmutter erzählt. Natürlich knüpfte Dienst-Demuth sofort daran an. Ebenso selbstverständlich ist es für sie auch, die Fluchtbiografien der sehr internationalen Familien ihrer Schüler einzubeziehen. Wie gut das gelingt, beweist das Beispiel von Gioia Roberto.

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