Eine schlichte Bronzetafel begrüßt den Besucher: »Dieses Gebäude wurde im Jahr 1898 als Synagoge der Jüdischen Gemeinde Schlüchtern gebaut und bis 1938 als Gotteshaus benutzt. Im Jahre 1932 lebten 358 Mitglieder der Jüdischen Gemeinde im Kreis Schlüchtern. Sie wurden entweder zur Auswanderung gezwungen oder sind umgekommen.«
Wir sind in Schlüchtern, einem 17.000-Einwohner-Städtchen in Osthessen – ein Luftkurort im malerischen »Bergwinkel« zwischen Rhön, Vogelsberg und Spessart. Drei Kirchtürme und die Landschaftssilhouette zieren das Stadtsignet.
Einst muss Schlüchtern eine sehr jüdische Stadt gewesen sein. Die Existenz einer jüdischen Gemeinde ist durch Quellen aus dem 13. Jahrhundert überliefert, im Jahr 1932 betrug der jüdische Bevölkerungsanteil zehn Prozent.
Zu dieser Zeit gab es auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen etwa 400 Synagogen – viele von ihnen in Dörfern und Kleinstädten wie Schlüchtern. Die dort 1898 eingeweihte, neuromanische Synagoge bot Platz für etwa 300 Gemeindemitglieder.
»Bis 1938 als Gotteshaus benutzt«
Sie wurde »bis 1938 als Gotteshaus benutzt«, heißt es auf der Bronzetafel im Eingangsbereich – ohne ins Detail zu gehen. Eine an der Außenfassade angebrachte Tafel erzählt die Chronik dieses Gebäudes im 20. Jahrhundert, die vielerorts in Deutschland ähnlich klingen könnte: »1938 9./10. November Zerstörung«; 1939–1945 Lagerhalle; 1945–1946 Wiederherstellung; 1950–1969 Kleiderfabrik; 1970–1993 Weitzelbücherei, Raum für kulturelle Veranstaltungen; 1995 Renovierung und Wiedereröffnung als Kulturhaus«.
Bald könnte ein neues Kapitel hinzukommen. »Sie war prunkvoll«, sagt Peter Büttner über die Schlüchterner Synagoge. Der Historiker, Psychologe und langjährige FDP-Kommunalpolitiker steht im leeren Gebäude, dem die teils gewaltsamen Eingriffe der vergangenen acht Jahrzehnte anzusehen sind.
Eine Tafel erzählt die Chronik, die vielerorts in Deutschland gleich klingen könnte.
Büttner ist Vorsitzender des 2021 gegründeten Vereins der Freunde der Synagoge Schlüchtern, der das Gebäude und angrenzende Rabbinerhaus nach Sanierung, Restaurierung und Umbau als Kultur- und Begegnungsstätte betreiben möchte. Im Februar 2023 schloss der Verein einen Erbbaupachtvertrag mit der Stadt, die den Bau zuvor von den Erben des ehemaligen Besitzers erworben hatte.
Viele Schlüchterner kennen die alte Synagoge als »KuKi«-Programmkino, welches bis 2010 das Obergeschoss nutzte. In der Nachkriegszeit ließ ein Fabrikant auf der Höhe der Frauenempore eine Stahlbetondecke einziehen, um noch mehr Platz für seine Textilproduktion zu schaffen.
Jetzt klafft in der Decke ein großes, rundes Loch – erstmals seit Jahrzehnten ist der ursprüngliche Raumeindruck der Synagoge zu erahnen. »Im Rahmen des Rückbaus wurden die Veränderungen, die nach Kriegsende für die industrielle Nutzung eingebaut wurden, entfernt, um im Rahmen der Machbarkeitsstudie eine höhere Sicherheit zu bekommen«, erläutert Peter Büttner.
Die Architektur soll alle Zeitschichten der Synagoge widerspiegeln.
Die in der unmittelbaren Nachkriegszeit weiß überstrichene Wandbemalung soll stellenweise wieder freigelegt und restauriert werden, während die beiden in der Pogromnacht abgebrannten Türme als stählerne Rohbauten wiedererstehen sollen.
Auf eine vollständige Rekonstruktion der ehemaligen Synagoge verzichtet Büttners Verein bewusst: »Wir wollen alle Zeitschichten, die das Gebäude erlebt hat, in der inneren und äußeren Architektur widerspiegeln.« Das aufwendige Vorhaben wird vom Land Hessen, vom Bund und von der Alfred Landecker Stiftung gefördert. In der breiten Unterstützung sieht Peter Büttner ein Zeichen für die überregionale Bedeutung des Projekts.
Jüdisches Leben seit Jahrhunderten verwurzelt
Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, kam unlängst nach Schlüchtern, um an einer Informationsveranstaltung des Fördervereins in der ehemaligen Synagoge teilzunehmen. »In Orten wie Schlüchtern wird deutlich, wie verwurzelt jüdisches Leben in Deutschland seit Jahrhunderten ist. Diese Geschichte in Form von Begegnungsorten, gerade für junge Menschen, weiterzutragen, halte ich für ungemein wichtig«, sagt der Zentralratspräsident.
In der künftigen Kultur- und Begegnungsstätte sollen Lesungen, Konzerte und Theateraufführungen stattfinden, ebenso sind eine Dauerausstellung zur jüdischen Geschichte Schlüchterns und verschiedene Wechselausstellungen vorgesehen.
Auch interreligiöse Formate sowie Veranstaltungen zu Antisemitismus und NS-Geschichte sind geplant. Das Rabbinerhaus soll Forschungsaufenthalte für Historiker ermöglichen. Als angestrebten Eröffnungstermin nennt Büttner den 9. November 2026. In seiner zupackenden Art sagt er: »Das ist sportlich, aber erreichbar.«