Immer wieder versuchte Esther Dischereit, jemanden in Heringen telefonisch zu erreichen. Endlich nahm ein junger Mann den Hörer ab. Es war Peter Kittel, der verwundert fragte, warum ihn diese Frau am anderen Ende der Leitung schon seit 14 Tagen anrief. »Setzen Sie sich mal hin, ich muss Ihnen etwas erzählen«, erwiderte die Autorin und stellte rasch fest, dass Peter nichts von den mutigen Taten seines Großvaters wusste.
»Ich bin so schnell wie möglich hingefahren, denn ich wollte, dass Fritz Kittel dafür geehrt wird, dass er meine Mutter Hella und meine Halbschwester Hannelore versteckte und für sie Papiere fälschte.« Diese Geschichte erzählt Esther Dischereit am Dienstag vor Eröffnung der Ausstellung Wer war Fritz Kittel – ein Reichsbahnarbeiter entscheidet sich – zwei Familien 1933 bis 2022, die nun im Technikmuseum präsentiert wird und in Kooperation mit der Deutschen Bahn entstanden ist.
Akten Vor den Schauwänden und den Tischen mit den Schubladen, in denen die Dokumente eingesehen werden können, steht Dischereit und berichtet aus dem Leben des Reichsbahnmitarbeiters und aus dem ihrer Mutter. Im Gegensatz zu Kittels Kindern hatte sie von seiner mutigen Tat schon als Mädchen gehört. Als sie ihn in den Akten ihrer Mutter wiederfand, wusste sie, dass sie ihn suchen müsse, um ihm zu erzählen, dass Hella und Hannelore die Schoa überlebt haben.
Er hatte die beiden versteckt, und als er als Angestellter der Reichsbahn versetzt wurde, überredete er sie, mit nach Heringen zu kommen, in die osthessische Kleinstadt. Dort gab er sie als seine Ehefrau und seine Tochter aus, er fälschte die Papiere, sodass sie bei Bombenangriffen einen Bunker aufsuchen konnten.
Nach dem entscheidenden Telefonat vor ein paar Jahren beschlossen Esther Dischereit und ihre Angehörigen sowie die Nachkommen von Fritz Kittel, sich mit diesem Teil der Familiengeschichte auseinanderzusetzen, und besuchten gemeinsam die einschlägigen Orte. Der Filmemacher Gerhard Schick hielt die Interviews mit Hannelore fest, ebenso hat er die Familien auf ihren Reisen mit der Kamera begleitet. Diese Aufnahmen bereichern nun die Ausstellung.
Zettel Sehr persönlich sind auch die Inhalte der Schubladen mit einem Fotoalbum der Schwester sowie Briefen, Objekten und Zetteln. Vervollständigt werden die Dokumente durch literarische Texte von Dischereit, in denen sie die Geschichte aufarbeitet. Aus jeder Schublade kann man eine Seite mitnehmen, auf der diese Texte abgedruckt sind, und in einem Hefter ablegen. Am Ende soll so ein vollständiges Bild entstehen.
»Für uns als Deutsche Bahn ist unsere historische Verantwortung ein zentrales Anliegen, das Gedenken an die Opfer des Holocaust wachzuhalten und uns kritisch mit der NS-Zeit auseinanderzusetzen«, sagt DB-Vorstandsvorsitzender Richard Lutz bei der offiziellen Eröffnung am Dienstagabend laut Redemanuskript. Die Ausstellung lade dazu ein, sich kritisch mit den Verbrechen der Nazis auseinanderzusetzen. »Ohne die Reichsbahn wäre die Deportation der europäischen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma in die Vernichtungslager nicht möglich gewesen«, sagt er.
Kuratorin Susanne Kill betonte, dass keiner von den Tätern der Reichsbahn verurteilt worden sei. Nur einer sei angeklagt worden: Albert Ganzenmüller. Gegen ihn wurde aufgrund seiner Mitwirkung an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ein Strafprozess wegen Beihilfe zum Mord eröffnet. Ein Urteil kam nicht zustande. Die Ausstellung wird demnächst in Chemnitz gezeigt. Christine Schmitt
Die Schau ist bis zum 30. April im Technikmuseum zu sehen.