Am 1. März 1991 bin ich zum ersten Mal in meinem Leben mit dem Zug gefahren. Fünf Tage dauerte die Fahrt, die meine Eltern, meinen kleinen Bruder und mich von Moldawien via Moskau nach Deutschland brachten.
Das war sehr aufregend, denn das Ganze war eine Nacht-und-Nebel-Aktion, niemand durfte davon wissen. Es war ja noch einige Wochen, bevor das Abkommen mit Deutschland über Kontingentflüchtlinge in Kraft trat. Wir sind mit einem Besuchervisum gekommen und wussten nicht, ob wir bleiben dürfen oder nicht.
Vater Unterwegs hat mich mein Vater zur Seite genommen und redete auf mich ein: »Wenn du gefragt wirst, wohin wir fahren, sagst du: nach Deutschland. Wenn du gefragt wirst, was wir dort wollen, sagst du: Urlaub machen. Du sagst nicht, dass wir jüdisch sind. Wenn du dir nicht sicher bist, was du sagen sollst, und wir sind nicht neben dir, dann fang’ an zu weinen.« Gott sei Dank wurde ich nicht befragt.
In Frankfurt wurden wir von zwei Freundinnen meiner Eltern vom Bahnhof abgeholt. Mit ihnen sind wir direkt zur Jüdischen Gemeinde gefahren. Viel Jüdischkeit hatten wir nicht verspürt in Moldawien. Es gab eine klitzekleine Synagoge in unserem Ort. Da ist dann meine Mutter an Pessach hin, um Mazza zu holen, und zu einer bestimmten Jahreszeit machte meine Oma diese dreieckigen Plätzchen, die mit Mohn gefüllt waren. Aber das war’s auch. Feiertage wurden bei uns nicht gefeiert.
Ich habe nicht nur gute Erfahrungen in Deutschland gemacht.
In der Sozialabteilung der Gemeinde in Frankfurt gab es eine sehr nette Dame, die meiner Mutter empfohlen hat, mich zuerst zu einem Sprachkurs zu schicken. Das hat sie im Herbst dann auch gemacht. Im Gegensatz zu Einwanderern anderswo wurden wir nicht in Heime einquartiert. In Frankfurt wurden einige Hotels für jüdische Einwanderer komplett reserviert.
Wir wohnten zu viert in einem Hotelzimmer am Bahnhof in Frankfurt, direkt gegenüber von einem Bordell. Das frühere Restaurant war nun der Aufenthaltsraum, wo ich ständig Neuankömmlinge kennenlernte. Ich fand’s herrlich!
BATMIZWA Im Sommer beschloss die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), ein Feriencamp für sowjetische Kinder in Rostock zu organisieren. Wir konnten ja auch alle noch kein Deutsch. Aus vielen Bundesländern sind etwa 100 Kinder gekommen, die alle schon Mitglieder in den Gemeinden waren.
Weil in diese Zeit mein zwölfter Geburtstag fiel, wurde auf dem Machane für mich eine Art Batmizwa organisiert. Die ZWST hat dafür sogar meinen Vater einfliegen lassen. Ich habe ein paar Geschenke bekommen, und für mich wurde gesungen. Okay, eine richtige Batmizwa hatte ich nicht, aber es war schön, in einer jüdischen Gemeinschaft zu leben.
Mein Deutschlehrer hatte türkische Wurzeln. Dank ihm spreche ich heute dieses gute Deutsch.
Es war ein gutes Gefühl, sich nicht ständig fragen zu müssen: Soll ich das jetzt sagen, oder soll ich das lieber nicht sagen? Denn solche Gedanken hatte ich in Moldawien. Hier nun haben wir vieles vom Judentum erzählt bekommen und konnten auch nachfragen. All das war neu.
Ab Herbst hat uns ein Herr Günesch in seinem Sprachkurs richtig rangenommen. Er hatte türkische Wurzeln und war ein fantastischer Lehrer. Jeden Tag mussten wir einen Aufsatz schreiben, jeden Tag 20 neue Wörter lernen und sechs Grammatikaufgaben lösen. Und das sechs bis sieben Stunden am Tag. Dank Herrn Günesch spreche ich heute dieses gute Deutsch.
SCHABBAT Nach dem einjährigen Sprachkurs bin ich auf Machane nach Strobl in Österreich geschickt worden. Ich kannte niemanden, aber die anderen Kinder waren alle freundlich. Schon im Zug haben sie mich ausgefragt, woher ich stamme, wie wir nach Deutschland gekommen sind. Sie waren sehr interessiert und sehr darauf bedacht, mich aufzunehmen.
Dann gab es eine besondere Begebenheit. Am Freitag bereiteten sich alle vor, um sich für Schabbat hübsch zu machen. Es gab damals von der ZWST ein Informationsblatt, welche Sachen dem Kind eingepackt werden sollen. Aber das mit der festlichen Kleidung für den Schabbes hatten meine Eltern wohl übersehen, also hatte ich nichts Entsprechendes dabei.
Da hat mich eines der Mädchen an die Hand genommen, mich zu den anderen gebracht und gesagt: »Marina hat keine Schabbes-Klamotten. So, Mädels, jetzt holt mal alles raus, was ihr habt!« Und dann wurde ich komplett eingekleidet. Das war eine wunderbare Erfahrung, ich habe dieses Gemeinschaftsgefühl geliebt.
SCHULE Mit dieser Erwartung bin ich dann in die Klasse an der jüdischen Schule in Frankfurt gegangen – und wurde bitter enttäuscht. Wir waren drei russische Kinder, und der Rest kam aus alteingesessenen jüdischen Familien. Die haben uns gar nicht gut empfangen. Da ist nur ein Mädchen aus der ganzen Klasse auf mich zugegangen und meinte: »Hey, ich heiße Hanna. Wie heißt du?« Das war’s. Alle anderen haben uns nicht angeguckt. Sie waren schon seit dem Kindergarten miteinander befreundet. Wir waren die Fremden, wir waren merkwürdig angezogen, haben komisches Essen gegessen.
Und dann gab es ein unangenehmes Erlebnis während eines Ausflugs. Die Klasse war an der Lochmühle, wo man Tiere füttern kann. Da haben drei Jungs aus unserer Klasse Tierfutter genommen, kamen zu meiner Freundin und mir und sagten: »Fresst doch, ihr seid doch Tiere!«
Wir waren die Fremden, wir waren merkwürdig angezogen, haben komisches Essen gegessen.
Ich kam an diesem Tag heulend nach Hause, habe es meinen Eltern erzählt, und sie entschieden, das nicht auf sich beruhen zu lassen. Die Mama meiner Freundin Lisa und mein Papa haben unseren Klassenlehrer aufgesucht und den Fall vorgetragen. Und dann gab es ein riesiges Tamtam mit den drei Jungs, und sie mussten sich vor der ganzen Klasse bei uns entschuldigen.
Trotzdem blieben wir Außenseiter. Es wurden Geburtstage gefeiert, zu denen alle eingeladen wurden, nur wir drei nicht. Es war fürchterlich und für uns nicht nachvollziehbar. In der sechsten Klasse hat sich das dann komplett gewendet. Man hatte mehr Bezug zueinander, hat sich auf einmal gegenseitig nach Hause eingeladen und gemeinsam Hausaufgaben gemacht. Die anderen Mädchen waren dann im Alter für die Batmizwa. Die Barmizwa der Jungs im Jahr darauf habe ich nicht mehr erlebt, denn wir hatten inzwischen alle die Schulen gewechselt, da die jüdische Schule damals nur bis zur sechsten Klasse ging.
BLASE Auf der neuen Schule bin ich zum ersten Mal mit nichtjüdischen Gleichaltrigen zusammengekommen. Ich war immer noch sehr eng mit meiner besten Freundin Lisa, die aber auf einer anderen Schule war. Die jüdische Community hat uns beiden gefehlt. Zu Hause hatten wir das nicht, das muss man klar sagen. Wir waren in Hinsicht auf das traditionell Jüdische unseren ahnungslosen Eltern längst weit voraus.
Wir haben von Machane zu Machane gelebt. Und weil uns das nicht reichte, ging ich mit Lisa sonntags ins Jugendzentrum. Da hatte man anderthalb Stunden, in denen man sich mit Gleichaltrigen traf. Es waren immer zwei Madrichim pro Gruppe da, die mit uns ein Thema entwickelten. Da war immer ein pädagogischer Aspekt dabei. Es konnte auch etwas Lustiges sein, bei dem man um ein Ziel kämpfte. Auch aktuell politische, größtenteils jüdische Themen, aber nicht nur. Mit meinen nichtjüdischen Mitschülern hat mich das noch mehr entfremdet, ich konnte einfach nichts mit ihnen anfangen.
Mein Leben spielte sich in einer jüdischen Blase ab – im Frankfurter Jugendzentrum und auf den Machanot in Bad Sobernheim, in Riccione und in Israel, an denen ich später auch als Madricha teilnahm. Man fühlte sich stark und unverwundbar. Das ist bis heute so geblieben.
BERUF Nach der Schule hatte ich den Wunsch, Lehrerin zu werden und in der jüdischen Schule zu unterrichten. Ich habe auch angefangen, auf Lehramt und Judaistik zu studieren. Sogar der berufliche Werdegang war also schon auf das Jüdische abgestimmt.
Irgendwann habe ich gespürt, dass das Lehramt nicht meins ist, und habe es abgebrochen. Ich machte eine Ausbildung zur Speditions- und Logistikkauffrau. Inzwischen leite ich in Berlin die operative Abteilung einer großen internationalen Spedition. Wir sind nicht nur auf Transporte spezialisiert, sondern auch auf alles, was mit Logistik, Lagerung und Zoll zu tun hat. Vor allem auch auf Kunden in der ehemaligen Sowjetunion. Da ich Russisch in Wort und Schrift beherrsche, besteht mein Arbeitsalltag inzwischen zu 80 Prozent aus russischer Korrespondenz. So kommen mir meine Sprachkenntnisse auch beruflich zugute.
Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg