Porträt der Woche

Genesis und Evolution

Martin Vingron forscht an der Schnittstelle von Mathematik und Molekularbiologie

von Gerhard Haase-Hindenberg  10.02.2024 21:24 Uhr

»Heute habe ich das, was ich so in meiner Kindheit nicht hatte: eine jüdische Familie«: Martin Vingron (62) aus Berlin Foto: Chris Hartung

Martin Vingron forscht an der Schnittstelle von Mathematik und Molekularbiologie

von Gerhard Haase-Hindenberg  10.02.2024 21:24 Uhr

Die Geschichte meiner Familie ist eher eine kommunistische als eine jüdische. Meine Großmutter mütterlicherseits ist 1917 aus der jüdischen Gemeinde in Wien aus- und in die KP Österreichs eingetreten. Aber auch von der Seite meines Vaters bestand die Familie aus Kommunisten.

Dieses Ideal hat über Jahrzehnte das Leben der Familie dominiert, und ich selbst wurde genau zwischen zwei Ereignissen geboren, die nicht nur die kommunistische Welt erschütterten: der Einmarsch sow­jetischer Truppen 1956 in Ungarn sowie 1968 in die Tschechoslowakei. Ich erinnere mich, dass es während meiner Kindheit innerhalb der Familie heftige Diskussionen dazu gab.

Bald kam es zur Distanzierung von den kommunistischen Idealen. So bin ich selbst nicht mehr mit der Ideologie indoktriniert worden. Ich wuchs auf mit ganz normalen bürgerlichen Werten, aber eben zunächst auch nicht in der jüdischen Tradition. Das Jüdische spielte nur insofern eine Rolle, als man mir immer sagte, ich solle mich nicht zu sehr wohlfühlen, es könne immer sein, dass man wieder die Koffer packen müsse. Bei meinen Großeltern hatte mehr als zwei Jahrzehnte zuvor die kommunistische Parteizugehörigkeit immerhin dazu geführt, dass die einen rechtzeitig nach England und die anderen in die Sowjetunion emigriert sind.

Abitur und Reise nach Israel

Nach dem Abitur bin ich nach Israel gereist, um in einem Kibbuz zu arbeiten. Ich hatte zuvor schon Kontakt zur jüdischen Hochschülerschaft in Wien, und von ihnen habe ich eine Adresse in Tel Aviv bekommen, wo ich mich melden sollte. Dort habe ich verstanden, dass das die Adresse einer linken Kibbuzbewegung war, und entsprechend links ist auch der landwirtschaftliche Kibbuz gewesen, in den ich kam.

Zurück in Wien, studierte ich Mathematik, weil mir das in Schulzeiten immer leichtgefallen ist. Hinzu kam, dass ich am Gymnasium einen Mathe-Lehrer hatte, den ich sehr mochte. Er hatte zunächst neben Mathematik auch Physik unterrichtet, und das hat mir noch besser gefallen. Nun muss ich erwähnen, dass meine beiden Eltern promovierte Physiker gewesen sind und auch mein Großvater einer war. Irgendwann aber hat mein Lehrer das Fach Physik abgegeben, und sein Nachfolger war mir nicht mehr so sympathisch. Da war dann klar, dass meine Liebe der Mathematik gilt.

Die Tora enthält Geschichten, über die ich viel nachdenke.

Nach dem Diplom hatte ich einen Job als Programmierer in Wien. Eines Tages saß ich im Kaffeehaus und habe die ZEIT gelesen. Da ich in meinem Job auf Dauer nicht sehr erfüllt war, habe ich auch ab und an in die Stellenanzeigen geschaut. In einer Annonce suchte man einen Wissenschaftler für den EDV-Bereich, der in einer recht seltenen Programmiersprache programmieren können sollte. Zufällig war es die, in der ich zu dieser Zeit arbeitete.

Außerdem sollte der Bewerber Interesse an Biologie haben. Nun hatte ich meine Diplomarbeit in Mathematik über eine Differenzial­gleichung aus der Populationsgenetik geschrieben. Da war die Biologie nur der Vorwand für die Differenzialgleichung, aber ich konnte mein Interesse an der Biologie heucheln. So habe ich die Stelle an der Uni Heidelberg bekommen. Dort musste ich Programme für die biologische Forschung entwickeln, und dabei fing ich richtig Feuer. Abends habe ich dann immer im Lehrbuch für Molekularbiologie nachgelesen, was ich tagsüber nicht verstanden hatte.

Promotion in Heidelberg

In Heidelberg wurde ich schließlich promoviert. Meine Dissertation widmete sich dem Vergleich mehrerer biologischer Sequenzen. Dabei stellte sich die Problematik so dar, dass es in unseren Zellen ja die Proteine gibt. Das sind Moleküle, die man sich als zusammengeknäulte Perlenketten vorstellen kann, auf denen es Perlen in 20 verschiedenen Farben gibt. Da die Kette aber viel länger ist, wiederholen sich die Perlen dieser Farben. Und ein Protein entspricht einer solchen Perlenkette, die Perlen selbst sind Aminosäuren.

Wenn es nun Perlenketten mit einer ähnlichen farblichen Abfolge gibt, so ist es unsere Aufgabe, das zu erkennen und die Perlen der gleichen Farbe übereinanderzulegen. Nun ist das natürlich nicht ganz einfach, ohne versehentlich die Kette zu zerreißen. Wenn man sich das aber als Gummikette vorstellt, die man dehnen kann, dann kann man die richtigen Farben zueinander bringen. Das ist das Problem, das wir in der Biologie haben, weil die verschiedenen Moleküle sich in der Geschichte der Evolution sukzessive verändert haben.

Aber es ist noch immer erkennbar, dass sie den gleichen Ursprung haben, weshalb es eben ähnliche Perlenketten gibt. Da sie aus der Evolution stammen, können wir sie zurückverfolgen, um zu verstehen, wie sich die Lebewesen im Laufe der Jahrmillionen entwickelt haben. Wenn sich zwei Sequenzen besonders ähnlich sind, wie etwa die vom Menschen und vom Schimpansen, so kann man sehen, dass der evolutionäre Ursprung von beiden ein recht junger ist. Wir sind durch diese Sequenzen in der Lage, den Gang der Evolution auf der Ebene der Zusammensetzung der Moleküle nachzuvollziehen. So also begann meine wissenschaftliche Karriere.

Postdoktorand in Los Angeles

Nach der Promotion war ich als Postdoktorand in Los Angeles, dann für fünf Jahre Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum, und seit dem Jahr 2000 bin ich Direktor am Max-Planck-Institut für molekulare Genetik und inzwischen auch Honorarprofessor an der FU Berlin. Natürlich muss ich mir gelegentlich die Frage gefallen lassen, wie ich diese Forschungen zur Molekularen Evolution mit der Schöpfungsgeschichte in der Tora unter einen Hut bekomme. Vor allem vor dem Hintergrund, dass ich als Gabbai in der Synagoge Pestalozzistraße ja augenscheinlich am religiösen Leben teilnehme.

Die Tora enthält Geschichten, über die ich nachdenke, und ich versuche, deren Wert als Geschichte herauszudestillieren. Natürlich kann ich nicht daran glauben, dass die Welt gerade einmal 5784 Jahre alt ist, aber ich glaube dennoch nicht, dass meine Forschung grundsätzlich im Widerspruch zum Judentum steht. Die Juden waren immer sehr wissenschaftsfreundlich und haben deren Evidenz stets wertgeschätzt.

Oft wird die Frage gestellt, warum es unter den Nobelpreisträgern überdurchschnittlich viele Juden gibt. Nun, einen Nobelpreis bekommt man für originelle Arbeiten, also für Ergebnisse, die zuvor nicht absehbar gewesen sind. Das geht meistens darauf zurück, dass jemand eine gute, vor allem neue Frage gestellt hat.

Im Wesen des Judentums lag es seit jeher, dass man die besten Fragen immer geschätzt hat.

Im Wesen des Judentums lag es seit jeher, dass man die besten Fragen immer geschätzt hat. Selbst in meiner damals nicht sehr jüdischen Familie wurde immer diskutiert und gefragt. Und im Verhältnis von Tora und Evolution lautet meine scherzhafte Zusammenfassung: Das muss ein sehr kluger Gott gewesen sein, der sich die Evolution überlegt, sie dann irgendwann losgeschickt hat und sie sich von selbst entwickeln ließ.

Bekanntlich ist ja das Judentum auch eine Sache der ganzen Familie. Ich hatte das Glück, bei der Hochzeit eines jüdischen Freundes in Augsburg mit einer jüdischen Frau bekannt gemacht worden zu sein. Das war der Anfang. Inzwischen sind wir seit 33 Jahren glücklich verheiratet, und wir haben zwei tolle Kinder: eine Tochter, die in Kanada in Psychologie promoviert hat, und einen Sohn, der in New York am Jewish Theological Seminary of America zum Rabbiner ausgebildet wird.

Ich finde es gut, dass er das macht, was ihm absolut entspricht. Der einzige Beitrag, den ich als wissenschaftlich denkender Mensch manchmal leiste, ist der, dass ich in der Diskussion mit ihm gelegentlich einfordere: »Mehr Präzision, bitte!« Dabei hat sich in diesen Gesprächen gezeigt, dass man auch in religiösen Fragen genauso rational nachdenken kann, wie in den Naturwissenschaften. Gleichzeitig ist bei seiner Tätigkeit noch sehr viel wichtiger als bei meiner, dass er den Menschen mitbedenkt.

Das gilt in ganz besonderer Weise auch für unsere Tochter, die an der Universität in Frankfurt am Main forscht. Sie hat sich mit Bilingualität beschäftigt, möglicherweise bedingt durch die vielen Sprachen, die ihre Großeltern sprachen. Darüber hinaus engagiert sie sich in Frankfurt auch als Psychologin bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Heute habe ich das, was ich so in meiner Kindheit nicht hatte: eine jüdische Familie.

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