Wie könnte man der Vielfalt jüdischer Identitäten im heutigen Deutschland besser gerecht werden, als sie selbst zu Wort kommen zu lassen? Die Journalistin und Autorin Andrea von Treuenfeld hat genau das getan: In ihrem neuen Buch Jüdisch Jetzt! Junge Jüdinnen und Juden über ihr Leben in Deutschland versammelt sie 26 Porträts jüdisch-deutscher Männer und Frauen.
Dabei spielt nicht nur das (neu) entdeckte Selbstbewusstsein der Generation der Mittzwanziger bis Mittvierziger im Ausleben ihres Jüdischseins eine zentrale Rolle. Von Treuenfeld führt ihrer Leserschaft ein diverses Judentum als gelebte Realität in diesem Land vor Augen.
Mit wenigen einleitenden Worten setzt von Treuenfeld den Rahmen des Buches. Neben der diversen Zusammenstellung der biografischen Hintergründe ihrer Gesprächspartner und -partnerinnen ist ihr ein Hinweis vorab wichtig: Sie habe bewusst versucht, die drei Begriffe Schoa, Antisemitismus und Nahost-Konflikt zu vermeiden, auf die Jüdinnen und Juden im öffentlichen Diskurs häufig reduziert würden. Kein einfaches Unterfangen, wie sich im Laufe des Buches herausstellen wird.
MOMENT Was ist dein jüdischster Moment? Mit dieser Frage beginnt jedes der Einzelgespräche. Eine Frage, die für viele Porträtierte höchst persönliche Erfahrungen und Erinnerungen hervorruft. Die Beschneidung der Kinder, Hochzeiten, Lesen und Singen aus den Familiengebetsbüchern, Challe backen mit der Mutter, Großvaters Tallit, das Leuchten der Schabbatkerzen auf der Menora.
Der Autorin gelingt es, mit dieser offenen Eingangsfrage die Lesenden ohne ausladende biografische Vorstellung unmittelbar auf einer persönlichen Gesprächsebene abzuholen. So wird die Gesamtschau der »jüdischsten Momente« gleichsam Ausdruck eines wiederkehrenden Musters dieses Buches – es sind individuelle und zugleich Gemeinschaftsmomente.
Die Porträtierten könnten auf den
ersten Blick nicht unterschiedlicher sein.
Man könnte diesen Eindruck vielleicht als geteilte Einzigartigkeit beschreiben: von Offenbarungserlebnissen bei der Bar- oder Batmizwa bis zu unangebrachten Schoa-Witzen. Die schönen wie unerträglichen Momente des Jüdischseins stiften auf einer von außen schwer zu greifenden Ebene Gemeinschaft unter ansonsten vollkommen Fremden. So könnten die Porträtierten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein: vom Rapper bis zur Unternehmerin, von Großstadt bis ländliche Idylle, deutsch, europäisch, kosmopolitisch.
PLURALITÄT Der Künstler Leon Kahane wird ebenso porträtiert wie die Autorin Lena Gorelik oder die Präsidentin der Jüdischen Studierendenunion Deutschland, Anna Staroselski. In den verschiedenen nationalen, sprachlichen, beruflichen wie geschlechtlichen Identitäten spiegeln sie die Pluralität der Gesellschaft wider. Wie der Titel andeutet, wird ein besonderes Augenmerk auf die Spannung zwischen religiöser und nationaler Herkunft gelegt.
An dieser entzünden sich auch innerhalb der jungen Generation immer wieder Konflikte. Denn in die Frage der eigenen Identität spielt oft die der Vorfahren hinein. Insbesondere die innerfamiliären beziehungsweise -gemeindlichen Migrationserfahrungen aus Ländern der ehemaligen Sowjetunion, Israel oder Amerika werden oft durch die Kinder fortgeschrieben, wiederum angereichert durch die Lebenswirklichkeit der Kindergeneration.
Jüngst haben sich drei der Porträtierten vorgestellt: Helene Shani Braun, Jonathan Kalmanovich, besser bekannt als Ben Salomo, und Garry Fischmann. Zusammen mit Autorin von Treuenfeld präsentierten sie Jüdisch Jetzt! in der Thüringer Landesvertretung in Berlin.
»political correctness« »Was wir in der gegenwärtigen Politik häufig erleben, ist Antisemitismus im Mantel der ›political correctness‹«, sagte Ben Salomo. Er entschied sich für einen offensiven Umgang damit: Sein Jüdischsein erlebte er als regelrechten Befreiungsschlag. Auf der Suche nach einem neuen Künstlernamen besann er sich auf seine Barmizwa: Als Ben Salomo wurde er damals zur Tora aufgerufen.
Mit dem Rapper war auch ein besonderer musikalischer Zugang zum Glauben geboren, der Popkultur und Tradition miteinander vereint. Seine expliziten Bezüge zum Judentum trafen jedoch auch auf Widerstand in der deutschen Rapszene. Ben Salomo darf in dieser, von vielen Diskriminierungsmechanismen geprägten Szene als Wegbereiter gelten: Heute ist die jüdische Kultur im Deutsch-Rap nicht mehr wegzudenken.
Die Überwindung von Diskriminierung ist auch ein Anliegen von Helene Shani Braun, Rabbinatsstudentin und Mitbegründerin des queeren Vereins »Keshet«. Sie engagiert sich für sichere Räume, in denen Feminismus, Queer- und Jüdischsein zusammengedacht und -gelebt werden kann.
sicherheitsbedürfnis Das aus den vielen religiösen und sexistischen Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen resultierende Sicherheitsbedürfnis nötige, so Braun, gewisse Verhaltensweisen ab, etwa den Davidstern zu verbergen. Letztlich münde dieses präventive Absichern aber auch in eingeschränkter Bewegungs- und Sprachfreiheit und in verpassten Chancen interreligiöser Begegnung.
Rapper Ben Salomo erlebte sein Jüdischsein als Befreiungsschlag.
Alle Podiumsteilnehmerinnen und -teilnehmer berichteten von antisemitischen Ressentiments, die noch immer Teil ihres Alltags seien. Und obwohl die drei auch von Ausgrenzungserlebnissen innerhalb der jüdischen Gemeinschaft betroffen waren, überwogen in der Gesamtschau des Buches unzweifelhaft die Erfahrungen mit stereotypen Zuschreibungen und aufgezwungenen Markierungen des eigenen Jüdischseins durch Nichtjuden. So kommen die Themen Schoa, Antisemitismus und Israel schließlich doch unvermeidlich als entscheidende Aspekte in der eigenen Identitätsfindung immer wieder vor.
GESCHICHTEN Von Treuenfeld ist es gelungen, mit ihrem Buch lebensnahe, liebevolle und manchmal schockierende Geschichten einzufangen. Es bleibt der Leserschaft überlassen, übergreifende Erfahrungsstränge zu identifizieren und die Einzelgeschichten zu einer bunten Gesamtkomposition zusammenwachsen zu lassen.
Jüdisch Jetzt! wird seinem Anspruch als Beitrag zum interkulturellen Austausch gerecht: So wird nicht nur ein besonderer Einblick in verschiedene jüdische Selbstverständnisse gegeben. Auch die in der nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft viel diskutierte Frage nach Identitätsbildung zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung wird auf interessante Weise beleuchtet. Ein Buch also, in dem sich viele unterschiedliche Leserinnen und Leser wiederfinden können sollten!
Andrea von Treuenfeld: »Jüdisch Jetzt! Junge Jüdinnen und Juden über ihr Leben in Deutschland«. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh/München 2023, 256 S., 22 €