Mittlerweile gibt es fast überall Beauftragte gegen Antisemitismus, die sich regelmäßig zu Wort melden. Wie aber kommt ihr Wirken im Alltag abseits der Schlagzeilen in den Gemeinden an, und welche Probleme sieht man abseits der großen Städte als vordringlich an?
Eigentlich ist Irith Michelsohn, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Bielefeld und zugleich Generalsekretärin der Union progressiver Juden in Deutschland, recht zufrieden. »Wir haben mit Sabine Leutheusser-Schnarrenberger in Nordrhein-Westfalen eine sehr engagierte Antisemitismusbeauftragte. Die Zusammenarbeit zwischen ihr und den Gemeinden und Verbänden im Land ist eng.« Darüber hinaus gebe es mit dem Verein »Begegnen e.V.«, der Initiative Sabra und dem überregionalen Projekt RIAS eine Menge weiterer Anlaufstellen, »insgesamt sind wir schon sehr gut abgedeckt«.
Bildungsarbeit Wunschlos glücklich ist aber auch Michelsohn nicht. »Ich wünsche mir, dass mehr passiert. Und dass die Bildungsarbeit gegen Antisemitismus nicht nur auf Kinder und Jugendliche beschränkt wird, sondern sozusagen fortlaufend ist«, sagt sie.
Mehr Sensibilität erhofft sich Irith Michelsohn auch von Justiz und Gesetzgebung. Aus aktuellem Anlass, denn ausgerechnet am 9. November fand in Bielefeld ein großer Nazi-Aufmarsch mit rund 2500 Teilnehmern statt. »Dass Gerichte immer wieder Veranstaltungen genehmigen, die von der Polizei zuvor untersagt wurden, ist etwas, worüber man durchaus auch einmal sprechen muss«, betont die Gemeindevorsitzende.
14.000 Bielefelder demonstrierten gegen die Neonazis.
Der Aufmarsch anlässlich des 91. Geburtstags der inhaftierten Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck war von einem Gericht ausdrücklich als nicht provokativ bezeichnet und erlaubt worden – was nicht nur Michelsohn nicht verstehen kann. »Haverbecks Geburtstag war am 8. November, was soll denn die Veranstaltung einen Tag später, am Jahrestag der Pogromnacht, anderes sein als eine Provokation?« Immerhin sei es ermutigend gewesen, dass mehr als 14.000 Bielefelder gegen die Nazis demonstrierten, »das war ein wohltuender Zuspruch«.
Gleichwohl betont Michelsohn, dass »wir nicht immer alles ertragen müssen, ich möchte nicht jedes Jahr eine lahmgelegte Innenstadt haben und erleben müssen, dass sich vor allem unsere älteren Mitglieder nicht auf die Straße trauen und wie in diesem Jahr deswegen nicht zum Gottesdienst kommen können«.
gespräche Für Thorsten Akiva Schmermund, gerade erst am Sonntag frisch gewählter neuer Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Marburg, ist die Arbeit inklusive aller etwaigen Probleme nicht ganz neu, denn zuvor war er im Gemeinderat tätig. Uwe Becker, seit April Antisemitismusbeauftragter des Landes Hessen, kennt er noch nicht persönlich, »aber wir haben viel Kontakt zu den städtischen Stellen, Polizei und Staatsschutz und das eben auch im persönlichen Gespräch«, berichtet er. Gerade nach dem Terroranschlag in Halle liefen zudem weitere Gespräche.
Als »vielschichtige Arbeit, ja sogar Graswurzelarbeit für die Bürger und Bürgerinnen der Stadt«, bezeichnet Schmermund das, was die Gemeinde bewusst versucht, nämlich ein offenes Haus zu führen und den Dialog zu fördern. »Wir wollen nicht wie eine Trutzburg wirken, weil das abschrecken könnte, sondern einladend sein, ein niederschwelliges Angebot, das dazu einlädt, Berührungsängste abzubauen.«
Was dazu führe, dass die jüdische Sichtweise durchaus gefragt sei, »zum Beispiel wurde ich einmal eingeladen, sie zum Thema Medizinethik zu erläutern«. Gefragt seien aber natürlich individuelle Lösungen. »Wir sind eine relativ kleine Gemeinde mit rund 320 Mitgliedern, in anderen Gemeinden sind andere Lösungen angebrachter.«
Thorsten Akiva Schmermund möchte auch in Hessen Antisemitismusbeauftragte auch bei Polizei und Justiz etablieren.
Auf der politischen Ebene sei es im Übrigen gut, mit dem Antisemitismusbeauftragten jemanden zu haben, der Ansprechpartner sei und über gute Kontakte verfüge, wovon eben auch Politiker profitieren könnten. »Wir kennen das doch alle aus unserem Berufsleben«, sagt Schmermund, »manchmal sind wir in einem Punkt unsicher, und dann ist es gut, wenn wir einen Leitfaden oder eben einen Ansprechpartner für bestimmte Problemstellungen haben.«
Schmermund denkt darüber nach, ob Beauftragte gegen Antisemitismus auch in Bereichen wie Polizei und Justiz nach dem Vorbild Berlins wünschenswert sind. »Wir haben vor einiger Zeit das Angebot gemacht, Tagesseminare für Polizisten und Polizistinnen abzuhalten, bei denen man sich kennenlernt und Fragen gestellt werden können.« Umgesetzt wurde das Angebot bisher nicht, »aber es könnte doch eine gute Gelegenheit sein, gedankenloses Nachplappern von Stammtischparolen zu beenden«.
Skepsis Leah Floh, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mönchengladbach, ist kritischer, was die Arbeit von Beauftragten gegen Antisemitismus betrifft. »Grundsätzlich sehe ich sie natürlich positiv, aber negativ sehe ich, dass kein Kontakt zu den einzelnen Gemeinden besteht, keine intensive Zusammenarbeit in Sicht ist«, sagt sie. Sie habe zwar einem Mitarbeiter der Beauftragten Leutheusser-Schnarrenberger einmal ein Interview gegeben, »aber das ist zu wenig, die Arbeit soll doch nicht oberflächlich sein, sondern in die Tiefe gehen«.
Konkret wünscht sich Floh, dass Beauftragte »sich vor Ort selbst informieren. Das bedeutet, nicht nur die Leitung der Gemeinde zu treffen, sondern auch Gespräche mit den Mitgliedern zu führen und sich von ihnen ihre Probleme schildern zu lassen«. Nur wer sich persönlich informiere, erhalte ein umfassendes Bild, welche Probleme jeweils junge und ältere Juden, jüdische Schüler und Senioren als vordringlich sehen.
Alltag »Nicht abgehoben und über allem schwebend« solle ein Beauftragter gegen Antisemitismus sein, fordert Floh, und ein Gespür für das Alltagsleben der jüdischen Deutschen haben. »Die Aufforderung, keine Kippa zu tragen, wie sie von Herrn Klein kam, ist zum Beispiel kontraproduktiv gewesen. Denn dann muss man eben etwas dafür tun, dass das Kippa-Tragen überall möglich ist, und nicht dazu raten, dass wir unsere Identität verheimlichen, anderen rät man das ja auch nicht.«
Einen umfassendes Bild vom jüdischen Alltag erhält man nur durch persönliche Information, sagt Leah Floh.
Außerdem würde sie gern besser darüber informiert werden, was die Beauftragten tun, ob sie zusammenarbeiten und auch konkrete Probleme im Blick haben. »Am Vorabend des 9. November erklärte mir beispielsweise dieses Jahr eine Schülerin eines katholischen Gymnasiums, sie wisse nicht, was die Pogromnacht sei – sie geht in die 12. Klasse. Zu überprüfen, was in den Schulbüchern und in den Unterrichtsplänen steht, wäre wohl auch eine wichtige Aufgabe«, regt Floh an.
Sie halte auch einen Antisemitismusbeauftragten im Bereich der Justiz für wünschenswert. »Vielleicht wäre dann nicht das passiert, was in Wuppertal passierte, dass nämlich entschieden wurde, der Anschlag auf die dortige Synagoge sei nicht antisemitisch, sondern politisch motiviert gewesen. Die Aufklärung junger Gerichtsmitarbeiter und Anwälte wäre eine Hauptaufgabe, wie auch die von Polizisten. Und das eben auch mit umfassenden Informationen über das Leben heutiger Juden.«
Die Alternative zu mangelnder Aufklärung sei nämlich, »dass wir irgendwann notgedrungen entscheiden müssen, hier nicht mehr leben zu können«.