Mehr als 80 Jahre lang besuchten nur christliche Mädchen die Marienschule im hessischen Offenbach. In diesem Jahr hat die katholische Schule – nach einem langen Diskussionsprozess – erstmals ihre Klassentüren auch für Schülerinnen anderen Glaubens geöffnet. Vier muslimische Mädchen werden derzeit unterrichtet und – so hofft die Schulleitung – demnächst auch jüdische Schülerinnen.
Für Mark Dainow, den Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland und Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde Offenbach, kommt diese Entscheidung zu spät. Er erinnert sich noch gut an das Gespräch, das er vor 26 Jahren mit der damaligen Leiterin der Marienschule führte. »Es war ein sehr unangenehmes Zusammentreffen«, berichtet er während einer Diskussionsveranstaltung mit Eltern, Lehrern, dem Bischof von Mainz, Karl Kardinal Lehmann, und dem Frankfurter Professor für Koranexegese, Ömer Özsoy, in der Marienschule.
Dainow war in den 70er-Jahren mit seiner Familie aus Weißrussland ins Rhein-Main-Gebiet gekommen. Seine damals zehnjährige Tochter konnte er nicht in der Marienschule anmelden.
Alltag Von den 120.000 Einwohnern Offenbachs haben rund 58 Prozent einen Migrationshintergrund. Offenbach ist damit die Stadt in Deutschland mit dem höchsten Ausländeranteil. In den Bildungseinrichtungen und im täglichen Leben gehören Menschen unterschiedlicher Staats-, Kultur- und Religionszugehörigkeit zum Alltag.
Darauf reagierte Schulleiterin Marie Luise Trocholepczy, und wandte sich nach wiederholten Bitten um eine Öffnung, vor allem von muslimischen Müttern, an das Bistum Mainz und Karl Kardinal Lehmann wandte. Zwei Jahre dauerte der durchaus kontroverse, kritische Entscheidungsprozess zusammen mit Schülerinnen, Eltern und Lehrern, bis feststand: »Wir müssen etwas wagen«, wie Lehmann und Schulleiterin Trocholepczy betonen. Einige Besucher formulieren an diesem Abend ihre Zweifel und Befürchtungen. Ihnen macht vor allem die mögliche Aussicht Angst, dass muslimische Schülerinnen demnächst mit Kopftuch im Klassenzimmer sitzen könnten. Eine Mutter, die als Jugendliche selbst die Marienschule besucht hatte, wirft der Schule vor, »den Vertrag einseitig gebrochen zu haben«. Das Besondere der katholischen Mädchenschule gehe verloren. Sie habe ihr Kind in einem »Schutzraum« christlichen Glaubens aufziehen wollen. Die Öffnung für andere Glaubensgemeinschaften hält sie für den falschen Schritt.
»Wir müssen unsere Kinder lebensfähig machen für die heutige Gesellschaft.« Im Alltag seien sie jeden Tag mit Migranten oder Andersgläubigen konfrontiert. Die Mädchen sollen selbstbewusst aufwachsen, den Glauben anderer achten und »kommunikationsfähig in ihrer eigenen Religion sein«, kontert Schulleiterin Trocholepczy. Außerdem seien Eltern, Schüler und auch Lehrer in die Entscheidung eingebunden gewesen.
Nachbarn »Religion muss in der richtigen Weise gestärkt werden, um ein friedliches Miteinander zu finden«, ist sie überzeugt. »Wir müssen die religiöse Identität unserer Nachbarn kennen«, betont auch Kardinal Lehmann angesichts der derzeitigen Flüchtlingssituation. Er plädiert für eine grundsätzliche Haltung der Offenheit und Dialogfähigkeit ohne missionarische Ansprüche.
Ein Ansatz, den die Jüdische Gemeinde Offenbach schon seit Langem in ihrem Kindergarten pflegt, ergänzt Mark Dainow. Dort werden zu jeweils einem Drittel Kinder jüdischen, christlichen und auch muslimischen Glaubens aufgenommen. Gemeinsam beten sie vor dem Frühstück und vor dem Schabbat – »mit der Kippa auf«, betont der Vizepräsident des Zentralrats. »Wenn man das sieht, weiß man, dass aus diesen Kindern keine Mörder und keine Antisemiten werden«, sagt Dainow.
Die von der Diözese getragene Marienschule hat derzeit 900 Schülerinnen. Für die vier muslimischen Mädchen wurde eigens eine muslimische Religionslehrerin eingestellt und ein eigener Gebetsraum eingerichtet. Die Leiterin der Frankfurter Lichtigfeld-Schule, Noga Hartmann, jedenfalls ist an diesem Abend extra nach Offenbach gekommen, um ihre Begeisterung für das Projekt zu bekunden: »Ich finde die Öffnung der Marienschule toll«, sagt sie.