Für Michael Fürst ist das schon lange nichts Außergewöhnliches mehr. Der Vorsitzende des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen arbeitet seit vielen Jahren mit Yazid Shammout, dem Vorstand der Palästinensischen Gemeinde Hannover, zusammen, die beiden haben auch privat ein freundschaftliches Verhältnis. Außenstehende wird es aber zunächst einmal stutzig machen: Juden und Palästinenser in Deutschland organisieren gemeinsam Hilfe für Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine? Die Geschichte dieser Kooperation ist eine des Dialogs, der geteilten Werte und des gemeinsamen Wunsches, anderen Menschen zu helfen.
»Yazid rief mich an und sagte, er habe ein kleines Pflegeheim frei«, erzählt Fürst. Ob er das für die Unterbringung jüdischer Flüchtlinge brauchen könne, habe Yazid Shammout, der auch Geschäftsführer der DANA Senioreneinrichtungen GmbH ist, gefragt. Fürst, der eine Anwaltskanzlei in Hannover führt, nahm das Angebot sofort an. »Am Sonntag haben dann Juden und Palästinenser gemeinsam die Räumlichkeiten gestrichen und eingerichtet.« Jetzt ist das Haus in Isernhagen, einem Vorort von Hannover, bezugsfertig. Platz gibt es für etwa 20 Personen, dazu einen Garten, in dem bald geflüchtete Kinder spielen sollen.
Charkiw Die Personen, die hier im Laufe der Woche einziehen sollen, kommen überwiegend aus Charkiw und Kiew, die meisten von ihnen haben verwandtschaftliche Beziehungen zu Mitgliedern der Jüdischen Gemeinde Hannover. Etwa die Hälfte der Flüchtlinge – darunter vor allem Frauen mit Kindern – sind selbst jüdischer Herkunft. Während die Unterkunft von der palästinensischen Gemeinschaft Hannovers gestellt wird, übernimmt die Jüdische Gemeinde die Betreuung der Flüchtlinge.
Dass beide Communitys so schnell und unkompliziert eine gemeinsame Ukraine-Hilfe auf die Beine stellen konnten, ist das Ergebnis jahrelanger Vertrauensarbeit. Den ersten Schritt machte vor zwölf Jahren Yazid Shammout, als er sich an Stephan Weil, der damals noch Oberbürgermeister von Hannover war, mit dem Wunsch wandte, einmal die jüdische Gemeinde der Stadt kennenzulernen. Weil war mit Michael Fürst gut bekannt und brachte die beiden zusammen. Doch wie beginnt man das Gespräch, wenn schon vorher klar ist, dass man sich in wichtigen Punkten ganz und gar nicht einig sein wird?
»Der entscheidende Punkt ist, den anderen aussprechen zu lassen und ihm nicht seine eigenen Gefühle abzusprechen.«
Michael Fürst, Vorsitzender des Landesverbands der Jüdischen Gemeinden Niedersachsen
»Der entscheidende Punkt ist, den anderen aussprechen zu lassen und ihm nicht seine eigenen Gefühle abzusprechen«, erläutert Fürst den Ansatz, den sie wählten, um in den Dialog miteinander zu treten. Unter dieser Prämisse stand auch die erste gemeinsame Veranstaltung: Jeweils eine Handvoll Personen aus der jüdischen wie aus der palästinensischen Gemeinschaft erzählten vor Publikum die eigene Geschichte, das Schicksal ihrer Familien – subjektiv und ohne Gegenrede.
Israel Fürst räumt ein, dass die Differenzen insbesondere in Bezug auf die Geschichte Israels zwischen beiden Gruppen groß sind und dass die Zusammenarbeit anfangs auch umstritten war. »Wir blicken aber vor allem auf die Zukunft«, und die erfolgreiche Umsetzung gemeinsamer Projekte habe gezeigt, »dass man sich nicht gleich in die Haare kriegen muss, wenn man anderer Meinung ist«.
Seitdem haben beide Gemeinschaften zusammen Demonstrationen gegen rechts organisiert und zahlreiche Gesprächsrunden veranstaltet. 2017 wurde Michael Fürst und Yazid Shammout für ihr Engagement die von der Bundesregierung gestiftete Auszeichnung »Botschafter für Demokratie und Toleranz« verliehen.
Als der Krieg in der Ukraine ausbrach, waren die Bande zwischen beiden Gemeinschaften bereits so eng, dass eine Kooperation bei der Flüchtlingshilfe auf der Hand lag. Fürst und Shammout wollen diese Zusammenarbeit auch »als Signal« verstehen, dass selbst »bei noch so großen unterschiedlichen Standpunkten ein Aufeinander-Zugehen und ein Miteinander möglich sind«.