Mehr als drei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Grauen der Schoa, am 9. Juli 1948, wurde in München die deutschlandweit erste Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (GCJZ) gegründet. Ausgerechnet in der ehemaligen »Hauptstadt der Bewegung« kamen der katholische Bürgermeister Karl Scharnagel, der evangelische Journalist Hans H. Gensert und der jüdische Arzt und Senator Julius Spanier als Gründerväter der GCJZ zusammen.
Nicht ohne Grund habe die US-Militärverwaltung die erste Gründung dort vorangetrieben, wo der Nationalsozialismus seinen Ausgang nahm, sagt Andreas Renz, katholischer Vorsitzender der GCJZ München. In den Jahren nach dem Krieg seien angesichts der Displaced Persons (DPs) aus Osteuropa wieder antisemitische Einstellungen und Ressentiments aufgekommen. Dem habe man etwas entgegensetzen wollen, das die Toleranz und die Verständigung förderte, betont Renz.
konstituierung Noch im selben Jahr folgten weitere Gründungen in Stuttgart und Wiesbaden. 1949 kamen Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit in Berlin und in Frankfurt hinzu. Am 10. und 11. September des selben Jahres konstituierte sich in Stuttgart der Deutsche Koordinierungsrat der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR).
»Die Gründung entsprang dem Bemühen der amerikanischen Militärregierung, nach dem Vorbild des ›National Council of Christians and Jews‹ (NCCJ) in den USA im Nachkriegsdeutschland zur Demokratisierung und geistig-politischen Neuorientierung beizutragen«, sagt Friedhelm Pieper, Evangelischer Präsident des DKR. Für die Militärregierung seien die Überwindung von antisemitischen Einstellungen und intoleranten Haltungen sowie die Förderung von interreligiösen Beziehungen von zentraler Bedeutung gewesen, ergänzt er.
Vorbild für den Koordinierungsrat war das amerikanische Council of Christians and Jews.
Die Frankfurter Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wurde im Februar 1949 gegründet. Der amerikanische Hochkommissar John McCloy habe das neu zu begründende Verhältnis der deutschen Bevölkerung zu den Juden als »Gesinnungsprüfstein« bezeichnet, berichtet Petra Kunik, Jüdische Vorsitzende der GCJZ Frankfurt.
Die Gesellschaft habe damals die städtische Bevölkerung aufklären und das Schweigen über die Schoa brechen wollen. Sie habe Vorträge, Film-abende und Ausstellungen veranstaltet, sei im Radio und in der Presse präsent gewesen. Ein prominentes frühes Mitglied der GCJZ Frankfurt war der Philosoph und Soziologe Theodor W. Adorno.
Aufgaben Die Aufgaben der Christlich-Jüdischen Gesellschaften seien seit den Anfängen im Wesentlichen dieselben geblieben, stellt Andreas Renz fest: »Der Kampf gegen jede Form von Judenfeindschaft, Aufklärung, Erinnerungsarbeit und Ermöglichung konkreter Begegnungen.«
Ähnlich sieht es Rabbiner Andreas Nachama, Jüdischer Präsident des DKR: »Ich fürchte, es hat sich keine große Veränderung ergeben.« Schwerpunkte der Arbeit seien bis heute der Kampf gegen Antisemitismus und ein Umgang auf Augenhöhe zwischen den christlichen Kirchen und den jüdischen Gemeinden. Friedhelm Pieper weist darauf hin, dass in der Anfangszeit die Verbesserung der Lebensumstände der jüdischen Bevölkerung nach dem Trauma der Schoa ein Schwerpunkt gewesen sei. Zuweilen habe damals auch ein Interesse an der Rehabilitierung Deutschlands eine Rolle gespielt, sagt Pieper.
Von 1985 bis 2016 war Rabbiner Henry G. Brandt jüdischer Präsident des DKR. Diese Zeit nennt er rückblickend »äußerst erfreulich und konstruktiv«. 1927 in München geboren, floh Brandt 1939 nach Palästina, lebte und arbeitete danach in Großbritannien, Schweden und der Schweiz. 1983 kehrte er nach Deutschland zurück und übernahm das Landesrabbinat in Niedersachsen. »In den 80er-Jahren stand die Erinnerungsarbeit im Vordergrund«, erinnert sich Brandt. Der Schwerpunkt habe sich seitdem auf zukunftsgerichtete Zusammenarbeit zwischen Christentum und Judentum verschoben. Die Beziehungen hätten sich im Großen und Ganzen positiv entwickelt.
Erfolge hebt auch Andreas Nachama hervor, etwa den Verzicht auf die Judenmission durch die Evangelische Kirche sowie die Etablierung von Studienprogrammen für evangelische und katholische Theologiestudenten in Israel.
Ein Erfolg der Arbeit des Koordinierungsrats ist der Verzicht auf die Judenmission.
Friedhelm Pieper betont ebenfalls das Erreichte: »Wir haben unseren Anteil daran, dass es heute zu einer vor Jahrzehnten noch ungeahnten offenen und vertrauensvollen Beziehung zwischen Juden und Christen gekommen ist.« Andreas Renz verweist auf den Erfolg der seit 1952 jährlich vor Ort veranstalteten »Woche der Brüderlichkeit« mit dem jeweiligen Festakt und den Begleitveranstaltungen.
Schwerpunkt Besorgniserregende Entwicklungen zeigen sich auch nach 70 Jahren institutioneller christlich-jüdischer Zusammenarbeit. »Der Antisemitismus zeigt wieder seine Fratze in unserer Gesellschaft«, sagt Henry G. Brandt. Der Judenhass sei eher größer als kleiner geworden, stellt auch Andreas Nachama fest. »Die Bekämpfung des Antisemitismus im gemeinsamen Schulterschluss zwischen Juden und Nichtjuden bleibt Schwerpunkt«, fährt er fort.
Man müsse auch Reibungen und Stellen, an denen es knirscht, benennen, sagt Nachama. Gespräche sowie die Konfrontation mit Unterschieden und Geschichte seien die beste Waffe gegen Antisemitismus und gegenseitige Vorurteile, betont Henry G. Brandt. Friedhelm Pieper mahnt: »Neuer Nationalismus und neuer Antisemitismus erfordern weiterhin ein engagiertes Eintreten für unsere Erinnerungskultur und einen Kampf gegen alle Versuche, das Erinnern an die Verbrechen in der Schoa zu verdrängen oder infrage zu stellen.«
Heute gibt es laut DKR bundesweit mehr als 80 Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit mit etwa 20.000 Mitgliedern, Freunden und Förderern. Junge Menschen zu finden, die sich zukünftig für ein besseres Verständnis zwischen Christen und Juden einsetzen, ist für Andreas Renz eine Herausforderung: »Die GCJZ München leidet wie viele andere Vereine unter einer Überalterung der Mitglieder.«
An der Notwendigkeit ihrer Arbeit besteht indes kein Zweifel. Renz glaubt nicht, dass die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit irgendwann mit ihren Aufgaben fertig sind.