Am Klingelbrett des hellen, mehrstöckigen Hauses sind provisorisch mit Klebstreifen – einmal links, einmal rechts – zwei neue Namen angebracht. »Schalom Ukraine« steht darauf, was sich wie eine kleine Ansage liest; eine, die immerhin für ein komplettes Stockwerk und übers Treppenhaus hinweg gilt. Hier, in den Räumen der Europäischen Janusz Korczak Akademie (EJKA), ist in Kooperation mit der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern (IKG) ganz schnell Platz gemacht, reagiert, improvisiert, gehandelt worden, sind von heute auf morgen die Türen für die aus dem Krieg geflüchteten ukrainischen Frauen und Kinder geöffnet worden.
»Der Krieg hatte begonnen, am Mittwoch darauf hatten wir Dienstbesprechung mit der Ansage, wir müssen etwas machen, Freitag geht’s los«, erinnert sich Olga Kotlytska, Projektleiterin von YouthBridge, eines zur EJKA gehörenden Leadership-Programms für Jugendliche, und derzeit Leiterin des Projekts »Schalom Ukraine«. Anfangs sei man ein bisschen unsicher gewesen, wie das so schnell klappen könne, und habe sich gefragt: »Wie finden wir überhaupt die Leute, die fliehen mussten?« »Fragt einfach herum, eure Verwandten, Bekannten, Freunde in der Ukraine oder hier«, habe Stanislav Skibinski, Direktor der EJKA, gesagt, und dass es vor allem um die Kinder gehe.
Soforthilfe Also legte man los, und dann waren es ganz schnell mehr als 20 ukrainische Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren, die zum »Schalom Kindercamp« kamen, mit ihren Müttern, Großmüttern, »jüdischen, nichtjüdischen, ganz egal«. Für den nächsten Monat wolle man für sie da sein. »Wir übernehmen die Soforthilfe«, sagt Kotlytska, »und geben damit unserer Stadt die Zeit, die sie braucht, um längerfristige Programme und Strukturen aufzubauen.«
Jedes Team von 15 Ehrenamtlichen packt mit an, wo und wann man könne. Jeder mit seinen Fähigkeiten, seinem Wissen, seinen Kompetenzen.
Jedes Team von 15 Ehrenamtlichen packe mit an, wo und wann man könne. Jeder mit seinen Fähigkeiten, seinem Wissen, seinen Kompetenzen. »Uns geht es um wirklich gelebte Menschlichkeit«, sagt Eva Haller, Präsidentin der EJKA, »um Respekt als Teil des Tikkun-Olam-Gedankens«. Sie und Stanislav Skibinski könnten all den Helfenden nur danken.
Da ist zum Beispiel die 77-jährige Klara Pecherska. Was gerade in ihrer Heimat geschehe, tue ihr »tief in der Seele weh«, sagt sie, die seit 24 Jahren in München zu Hause und IKG-Mitglied ist, wo sie schon lange als Ehrenamtliche tätig ist. Bei »Schalom Ukraine« kümmert sie sich um die Registrierung der Neuankömmlinge: »Ich bin auch für erste Fragen da, und wenn sich Kleiderspenden stapeln, dann sortiere ich die.« Anastasia Lubiana (26) kam selbst vor vier Jahren aus der Ukraine, studiert an der Ukrainischen Freien Universität in München Psychologie und Pädagogik und ist für das Programm für die Kinder zuständig, spielt mit ihnen, gibt Unterricht und sagt, es sei »unglaublich, wie viel Liebe einem da entgegenkommt«.
LIEDER Miriam Vynograd, im Projektmanagement der EJKA, bringt gerade den Jüngsten mithilfe des Stoffaffen »Kicki« erste, kurze deutsche Sätze bei. »Ich heiße Katja«, sagt ein kleines Mädchen. »Ich heiße Katja«, sagt auch die Kleine ihr gegenüber. Am Ende sind es mindestens drei Katjas, was der Junge, der sich lieber am Rollo zu schaffen macht, ziemlich komisch findet. Im Raum nebenan wird getanzt. Und wie! Dascha, professionelle Tanzlehrerin und selbst mit zwei Kindern aus der Ukraine geflohen, gibt die Kombi vor.
Ilona aus der ersten Reihe, zehn Jahre alt, langes, glattes Haar, ist showreif, schlägt nachher, wenn die anderen bereits ins nächste Zimmer gezogen sein werden, vor der grünen Wand noch ein paar Räder. Luisa Pertsovska, Musikpädagogin und Kinderchorleiterin der IKG, kommt schnell herüber vom Gemeindezentrum. »Für mich ist das überhaupt keine Frage.«
»Schnee, Eis und Kälte«, hört man es hinter der geschlossenen Tür, erst gesprochen, schließlich fröhlich gesungen. »Ja«, sagt Olga Kotlytska, »die Gruppen wachsen zusammen, die Kinder werden ausgelassen.« Am Anfang sei das nicht für alle ganz einfach gewesen, ergänzt sie, ein paar hätten sich in den Schränken versteckt, »und wir haben gesucht und gesucht«. Elena Sidhu und Igor Kolesnikov, Psychologen der Erziehungsberatungsstelle der IKG, sind während regelmäßig stattfindender Gruppentreffen für die kleinen und größeren Kinder da. Eine gewisse »Orientierungslosigkeit«, auch »Bindungslosigkeit«, sei bei ihnen festzustellen, berichten sie. »Sie sind noch in diesem Fluchtmodus«, sagt Sidhu.
Die »Großen« stellten bestimmte Fragen, um ihre neue Umwelt irgendwie einzuordnen, zum Beispiel, wie das hier mit den Masken sei, mit der Schule, erklärt Kolesnikov weiter. Es gehe darum, mit den Kindern zusammen deren jeweilige Stärken zu benennen, die sie befähigten, mit anderen in Kontakt zu treten. »Sie haben da gute Ideen«, stellen beide fest.
Puzzle Die Begegnung mit einem Jungen ist Lydia Bergida, Programmdirektorin der EJKA, besonders im Gedächtnis geblieben. Der wollte partout nicht mitmachen beim Legen der Mandala-Puzzles, die sie für die Kinder mitgebracht hatte. Später sei sie dann zu ihm auf den Gang gegangen. »Er interessierte sich sehr für meine Kamera, und auf einmal sagte er in bestem Englisch: ›Es ist Krieg, und Putin ist ein ganz böser Mann.‹« Vor Kurzem sei er sieben Jahre alt geworden, erzählte der Junge.
Manche Kinder sind noch in einem Fluchtmodus und verstecken sich.
In der Küche duftet es. »Heute gibt es Thunfisch.« Dazu fein geschnittenen Salat. »Und zum Nachtisch haben wir Apfelbrei vorbereitet«, sagt Vlada aus Dnipro. Sie ist mit ihren beiden Jungs, fünf und sieben Jahre alt, ihrer Schwester und der Mutter geflohen. Der Ältere, so erzählt Vlada, achte immer sehr auf ihre Nasenspitze. »Und wenn die rot ist, weiß er, dass ich wieder geweint habe.«
Alexandra Panow, die für die EJKA Programme koordiniert, kümmert sich um die gemeinsamen Mahlzeiten und die Lebensmittellieferungen. »Die Frauen haben sich ganz schnell selbst organisiert, sie kochen, decken für die Kinder wunderbar den Tisch«, steckten ganz viel Liebe in ihre Bemühungen, um ihre Kinder stark zu machen.
Highlight Und dann vor ein paar Tagen ein »echtes Highlight«, wie alle finden. Der Besuch bei Makkabi. Es gab Fast Food, Eis, und im neuen Trainingsanzug ließ sich dann kreuz und quer über die Plätze rasen.
Die Jüngeren werden sich demnächst während des Tagesprogramms, das Montag bis Freitag von etwa 10 bis 14 Uhr läuft, die jüdische Sinai-Grundschule, die Älteren das Jüdische Gymnasium ansehen. Auf dem Weg in einen neuen Lebensabschnitt.