Vor wenigen Minuten schlossen die Wahllokale der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Seit zehn Uhr waren etwa 9000 berechtigte Gemeindemitglieder aufgefordert gewesen, die 21-köpfige Repräsentantenversammlung zu wählen. Zur Wahl standen insgesamt 40 Kandidaten. 21 von ihnen traten für das Wahlbündnis Koach des amtierenden Gemeindevorsitzenden Gideon Joffe an, 17 für das oppositionelle Wahlbündnis Emet des Herausforderers Sergey Lagodinsky.
In den Wahllokalen sei »schon viel los«, berichteten Isak und Ariane Weizmann. Beide hatten am Sonntagmorgen kurz nach zehn Uhr im Wahllokal im Gemeindehaus in der Fasanenstraße ihre Stimme abgegeben. Seit 40 Jahren sind die Weizmanns regelmäßig bei den Gemeindewahlen zur 21-köpfigen Repräsentantenversammlung dabei. »Es ist so wie immer«, meinten sie.
transparenz Erst zum dritten Mal hat hingegen Peter Wittenberg seinen Stimmzettel in die Urne geschoben. Seit den 90er-Jahren lebt er in Berlin. Er habe sich »nicht immer« an den Wahlen beteiligt. Doch diesmal sei es ihm wichtig gewesen, denn er findet die Situation der Gemeinde »schrecklich«. Vor allem kritisiert er die fehlende Transparenz. »Ich trete aus, wenn Koach wieder die Mehrheit haben wird«, kündigte er an.
Julie Braun hat sich vor der Wahl eingehend informiert und wusste deshalb schon, welchen Kandidaten sie ihre Stimme geben würde. »Seit Jahrzehnten komme ich zur Wahl, das ist mir ein wichtiges Anliegen.« Das sieht auch Katrin Oraizer so. »Ich bin aber Erstwählerin, da ich erst vor dreieinhalb Jahren mit meiner Familie aus Israel wiedergekommen bin.« Da sie sich nicht so gut in der Gemeinde auskenne, habe sie gründlich die Wahlzeitung studiert, in der sich alle Kandidaten vorstellten. »Da wusste ich dann, wem ich meine Stimme geben kann.«
»Ich bin zum ersten Mal seit Langem keine Wahlhelferin, obwohl ich mich gemeldet hatte«, bedauert Rinah Neubauer. Sie hätte gerne wieder im Wahllokal mitgeholfen, zumal dann noch kurzfristig Helfer gesucht wurden. Nun habe sie aber »nur« ihre Stimme abgeben können. »Da sitzen eigentlich ausschließlich Leute an den Tischen, die zu Koach gehören«, beschreibt sie ihren Eindruck vom Wahllokal. Ansonsten sei aber alles ruhig.
stimmung Im Wahllokal Jeanette-Wolff-Heim hingegen wirkte die Stimmung angespannt – sowohl zwischen Wahlhelfern und Wahlbeobachtern als auch zwischen einigen Wählern. Dort waren gegen Mittag rund 30 Stimmen abgegeben worden. An einem langen Tisch kontrollierten sechs Wahlhelfer Personalausweise, Wahllisten und gaben Stimmzettel aus. In drei Wahlkabinen konnte jeder Wähler anschließend bis zu 21 Namen ankreuzen.
Als eine Wahlhelferin auf ihrer Liste nicht sofort den Namen einer Wählerin fand, machte ein anderer Wähler seinem Unmut Luft. Wahrscheinlich habe sie »ihre Stimme schon abgegeben«, witzelte er. Daraufhin wurde er von einer älteren Wählerin zurechtgewiesen. Alles verlaufe doch korrekt, sagte sie. Alle würden darauf achten, sowohl die Wahlhelfer als auch die Emet-Kandidaten, die auf ihren Stühlen die Abläufe beobachteten.
»Viele Kandidaten kenne ich gar nicht«, sagte ein Wähler, der seinen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. Dennoch sei es ihm wichtig gewesen, für diejenigen abzustimmen, die aus seiner Sicht »eine gute Arbeit machen«. Auch Malka Nelson und Rüdiger Urban sind an diesem Sonntag persönlich zur Wahl erschienen – obwohl sie sonst immer lieber per Briefwahl ihre Stimme abgegeben haben. »Wir hatten Angst, dass unsere Post manipuliert wird«, sagen sie. Deshalb schien es ihnen sicherer, direkt in einem Wahllokal abzustimmen.
briefwahl Unterdessen verbreitete sich kurzzeitig das Gerücht, dass 1500 Anträge auf Briefwahl gestellt worden seien – eine nicht unerhebliche Zahl. Die Information stammte von Sergey Lagodinsky, der kurz in der Fasanenstraße war und anschließend in die Oranienburger Straße fuhr, um dort seinen Wahlzettel auszufüllen. Das Bündnis Emet, für das er als Spitzenkandidat antritt, hat für jedes Wahllokal Interessierte gesucht und gefunden, die die Abläufe rund um die Stimmabgabe beobachten und gegebenenfalls Unstimmigkeiten dokumentieren sollen.
Grigorij Kristal war ebenfalls schon morgens auf dem Weg zur Stimmabgabe. »Ich bin ganz erleichtert, dass ich diesmal nur wählen muss – und nicht selbst kandidiere«, beschreibt der ehemalige Repräsentant die angespannte Stimmung, die den vorangegangenen Wahlkampf gekennzeichnet hatte.
Ob die Wahlbeteiligung diesmal höher lag als vor vier Jahren – damals hatte nur etwa jedes zehnte wahlberechtigte Gemeindemitglied von seinem Wahlrecht Gebrauch gemacht –, wird sich in der kommenden Nacht herausstellen, wenn alle Stimmen ausgezählt sind. Nach Schließung der Wahllokale um 18 Uhr werden die Wahlurnen nun in die Oranienburger Straße gebracht. Mit einem Ergebnis der Stimmenauszählung wird am frühen Montagmorgen gerechnet.
Die Legislaturperiode des Gemeindeparlaments dauert vier Jahre. Zuletzt wurde 2011 gewählt. Die Wahl wurde damals erfolgreich angefochten. Auch über die Gültigkeit des zweiten Wahlgangs musste damals der Schiedsausschuss der Jüdischen Gemeinde zu Berlin entscheiden. »Trotz Bauchschmerzen«, wie Nathan Gelbart, damals Mitglied des Schiedsausschusses, sagte, hatte er sie schließlich als rechtmäßig erklärt. Ob es diesmal nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses ebenfalls zu einer Anfechtung der Wahl kommen wird, bleibt abzuwarten.