Kürzlich hat sich ein ehemaliger Doktorand bei mir gemeldet. Jahrelang hatten wir uns aus den Augen verloren. Wie sich herausstellte, hat es ihn nach Südkorea verschlagen. Irgendwie ist es ihm gelungen, mich über einen Cousin ausfindig zu machen. Seitdem mailen wir uns regelmäßig.
Meine Doktoranden aus Moskau sind inzwischen in alle Welt verstreut. Viele sind in die Wirtschaft gewechselt, denn dort kann man seit dem Zerfall der Sowjetunion wesentlich mehr verdienen als in der Forschung. Ich habe im Institut für Nachrichtentechnik und Elektronik der Akademie der Wissenschaften gearbeitet. Ich hatte fünf bis sieben Mitarbeiter.
Als ich 2001 nach Deutschland kam, war ich schon 64 Jahre alt. Da wollte natürlich keiner mehr mit mir über eine Anstellung reden. Trotzdem: Um in Form zu bleiben, beschäftige ich mich möglichst jeden Tag mit Problemen der Physik aus meinem früheren Gebiet, zum Beispiel mit künstlichen neuronalen Netzen. Ich lese die wissenschaftliche Literatur im Internet oder in der Unibibliothek, stelle mir selbst Aufgaben und denke darüber nach. Das mache ich für mich, nicht etwa zum Veröffentlichen. Aber es fällt mir schwer, allein zu arbeiten. Denn ich war immer Teil eines Teams.
enkel Als Rentner habe ich viel Zeit für meinen Enkel. Ich versuche, ihm die Physik nahezubringen. Das tue ich seit seinem sechsten Lebensjahr – inzwischen ist er 16. Wir gehen spazieren und reden über Physik: Guck mal, ein Regentropfen fällt vom Blatt! Warum fällt er herunter? Schau genau hin, wie er sich losreißt … Mit der Zeit wurden unsere Fragestellungen komplizierter. Aber leider muss ich sagen: Ich bin entsetzt darüber, wie in deutschen Schulen Physik unterrichtet wird.
Die Kinder lernen ungefähr nur, dass sie die Finger nicht in die Steckdose halten sollen. Der Unterricht ist bruchstückhaft, ihm fehlt das System. Der eine Lehrer weiß nicht, was der andere schon gemacht hat. Sehr befremdlich – wo Deutschland doch ein so hoch entwickeltes Land ist. Ich frage mich, wer wohl all diese hervorragende Technik erschafft – und vor allem, wer das auch in Zukunft leistet. Offensichtlich setzt man bewusst darauf, dass einzelne Talente sich von alleine durchsetzen und das hohe Niveau halten werden.
Ein Freund von mir, ebenfalls Physiker aus Moskau, hatte den Gedanken, dass man Physik bereits Vierjährigen beibringen soll. Und zwar mit allen Sinnen: Sehen, Riechen, Tasten. So wie man professionelle Musiker schon sehr früh an das Instrument heranführen muss. Also machten wir beide eine Art Schule für Kinder mit zwei Gruppen je sieben Personen auf. Alle Geräte haben wir selbst gebastelt, mit Materialien vom Sperrmüll. Wir haben das ehrenamtlich gemacht, die Eltern kostete es fast nichts. Das klappte auch sehr gut, doch nur ein Jahr lang. Danach verloren wir den Raum, und das war das Ende. Schade, denn wir träumten davon, hier in Deutschland Physiker der Weltklasse heranzuziehen.
Ich lese viel, verbringe oft Zeit im Internet und verfolge die Ereignisse in Russland, da ich mir große Sorgen um das Land mache. Meine Frau und ich haben viele Freunde, mit denen wir uns treffen oder gemeinsam etwas unternehmen. Leider gibt es diese Sprachbarriere, die uns von den Einheimischen trennt und sogar von dem alteingesessenen Teil der jüdischen Gemeinde. Wir leben sozusagen in Parallelwelten. Das ist traurig. Aber wir müssen es uns selbst zuschreiben, denn wir sind in einem Alter ausgewandert, in dem es kaum mehr gelingt, eine Fremdsprache fließend zu sprechen, auch wenn man sich Mühe gibt.
Club Auch in unserem Club bleiben die Russischsprachigen meist unter sich. In ihm habe ich vor sechs Jahren eine Abteilung für Wissenschaft und Technik organisiert. Einmal im Monat versammeln sich ehemalige Wissenschaftler, Ingenieure und Ärzte, halten Vorlesungen und diskutieren. Das verbessert unsere Lebensqualität enorm. Wir sind Menschen, die aufgrund ihres Alters nicht mehr beruflich aktiv sind. Aber das Interesse ist ja geblieben, der Wunsch, sich auszutauschen.
Ab und zu laden wir Gäste ein. Aber im Großen und Ganzen bereiten wir die Vorträge aus eigener Kraft vor. Zum Beispiel habe ich vor Kurzem über die Herausforderungen der Nanotechnologie gesprochen, und unsere Biologen haben über Stammzellen erzählt. Wir haben hier Biochemiker, Physiker, Ingenieure, jede Menge Professoren – die ganze Akademie der Wissenschaften ist vertreten. Alles ältere Leute natürlich, manche auch sehr alt. Aber sie bereiten sich äußerst gewissenhaft vor, haben richtig Lampenfieber, sodass ich manchmal echt Sorgen um ihre Gesundheit habe. Doch alle sagen, dass sie das mit Freude tun.
In unserer Kölner Synagogen-Gemeinde haben wir auch einen wunderbaren Literarischen Salon mit Gesprächen auf sehr hohem Niveau. Zweimal im Jahr halte ich dort Vorträge über berühmte Physiker: Planck, Einstein, Bohr. Ich bereite mich ungefähr ein halbes Jahr darauf vor, wälze jede Menge Literatur. Das Wichtigste ist jedoch, die Vorträge spannend zu gestalten, als eine Art Krimi für die Zuhörer, die ja mit dem jeweiligen Fachgebiet kaum vertraut sind.
Dabei habe ich einen Wissenschaftler entdeckt, den hier kaum einer kennt. Sein Leben ist spannender als jeder Roman. In Odessa, wo ich studiert habe, gab es das Gerücht, dass vor dem Krieg am Lehrstuhl für Theoretische Physik ein Professor aus Deutschland unterrichtet hat. Seinen Namen wusste ich nicht, seine Spur hatte sich verloren. Die Zeit nachzuforschen hatte ich erst hier – und ich habe eine unglaubliche Geschichte aufgetan: Es stellte sich heraus, dass dieser Guido Beck eine großartige Persönlichkeit war. In Deutschland und in Osteuropa war er weitgehend unbekannt. Aber als ich im Internet nach ihm gefahndet habe, fand ich eine Menge Literatur auf Portugiesisch und Spanisch. Ein bisschen gab es auch auf Englisch und auf Deutsch, sodass ich die Geschichte buchstäblich krümelweise aufpickte.
Unbekannt Beck war ein Jude aus Böhmen, studierte in Wien, arbeitete mit Bohr und Rutherford zusammen und war der erste Assistent von Werner Heisenberg, dem Begründer der Quantenmechanik. In den 30er-Jahren entschloss er sich, vor den Nazis nach Russland zu fliehen. In Odessa gründete er den Lehrstuhl für Theoretische Physik, musste jedoch 1937 auch von dort fliehen. Mithilfe von Niels Bohr konnte er 1940 nach Frankreich ausreisen, dann flüchtete er weiter nach Portugal. Heute verehrt man ihn dort als Gründer der portugiesischen Physikwissenschaft.
Aber leicht wurde es ihm nicht gemacht: Kaum hielt er an einer Hochschule drei, vier Monate lang Vorlesungen, musste er weiterziehen. Die alten Professoren fürchteten die Konkurrenz. Seine Mutter war im KZ in Auschwitz. Er versuchte, sie dort rauszuholen. Aber als Staatenlosem waren ihm die Hände gebunden. Als er einsah, dass er seine Mutter nicht retten konnte, wanderte er nach Argentinien aus. Dort und auch in Brasilien gilt er als Gründer der nationalen Kernphysik.
Ich habe bereits zwei Vorträge über Beck gehalten, aber sein Lebensweg lässt mich nicht los. Zurzeit träume ich davon, an einen Band heranzukommen, der in der Bibliothek der brasilianischen Akademie der Wissenschaften aufbewahrt wird. Könnte ich den bekommen, würde ich alle Details kennen. Doch so weiß ich noch zu wenig über seine Kindheit, und weiß nicht, ob er selbst Kinder hatte oder nicht. Ich brauche jemanden, der für mich in Brasilien ein paar Seiten kopiert.
Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda