Zu den alljährlich wiederkehrenden Herausforderungen für Evita Wiecki (1968–2022), Jiddistin am Lehrstuhl für Jüdische Geschichte und Kultur der Ludwig-Maximilians-Universität, gehörte ihre Mitwirkung an der Sommeruniversität in Hohenems und die weltweite Suche nach einer Persönlichkeit aus der Jiddisch sprechenden und forschenden akademischen Welt für den Scholem-Alejchem-Vortrag an der LMU. Diese zeitintensiven Aufgaben waren aber nur Zusatz zu den regulären Pflichten einer Dozentin, Beraterin, Forscherin und Koordinatorin.
Zur Erinnerung an die geschätzte Mitarbeiterin richtete Lehrstuhlinhaber Michael Brenner am Mittwoch vergangener Woche zur ersten Jahrzeit gemeinsam mit der Jiddistin Efrat Gal-Ed ein Symposium zum Andenken an Evita Wiecki aus. Der Titel »Zur Vielfalt jiddischer Literatur und jiddistischer Forschung« passte perfekt zum vielfältigen Engagement der Verstorbenen. Die Kollegin Gal-Ed wählte als Motto eine Gedichtzeile des Dichters Schmuel Halkin, der als Mitglied des Jüdisch-Antifaschistischen Komitees der Hinrichtung nur entging, weil ihn ein Herzinfarkt vom Gefängnis ins Krankenhaus gebracht hatte: »di alte mutersprach fun nayem sfinks«.
SPHINX Was am Jiddischen so geheimnisvoll und erklärungswürdig wie die mythische Gestalt der Sphinx ist, belegten die Biografien schreibender Frauen und Männer, für die Jiddisch ihre »lebedike« Muttersprache und literarisches Ausdrucksmittel war. Für die meisten Vortragenden, wie auch für die Verstorbene, war Jiddisch eine Sprache, die sie sich bewusst erarbeitet hatten. Wohl wissend, dass es vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs das Idiom von weit über elf Millionen Menschen gewesen war und heute an Universitäten wie in Düsseldorf, München und Regensburg als Orchideenfach gepflegt wird.
Wie sehr die jiddische Dichtung von Stalins Verfolgungswahn zugrunde gerichtet wurde, beschrieb auch Daria Vakhrushova.
Zum Auftakt nahm sich Carmen Reichert die »Gewalt in der Idylle. Bella Chagalls brenedike Likht« vor. Reichert, die über jiddische und deutsch-jüdische Lyrikanthologien promovierte, arbeitete das Besondere an Bella Chagalls frühen Erinnerungen, erzählt aus kindlicher Perspektive, heraus. Der Idylle von Schabbat und Feiertag setzte die Autorin ihre Fantasien von gewaltbereiten Möbeln und zu Rosch Haschana »geschlachteten Ananas« entgegen. Reichert ist seit Mai 2022 Direktorin des Jüdischen Museums Augsburg-Schwaben.
Sabine Koller, Professorin für Slawisch-Jüdische Studien an der Universität Regensburg, die gerade den lesenswerten Erzählband Die Welt möge Zeuge sein über Dovid Bergelson mitherausgab, sprach über dessen Kollegen und Leidensgefährten Leyb Kvitko. Der Vater einer Tochter verfasste mehr als 100 Bücher. Das allermeiste war für Kinder gedacht, mit Abzählreimen, Tiergedichten und kindlichen Abenteuern wie »Aisikl auf Reisen«.
Kvitkos Glaube an eine neue Zeit, seine sich komplett anpassende, neue Lyrik bewahrte ihn nicht davor, am 12. August 1952 in der Nacht der ermordeten Dichter im Moskauer Gefängnis Lubjanka erschossen zu werden. Koller erinnert sich voller Wärme, wie Evita Wiecki eine ganze Gruppe Studierender in Regensburg, so auch sie, für das Jiddische gewann. Gemeinsam übersetzten sie »Ein Tag in Regensburg« von Joseph Opatoshu.
DICHTUNG Wie sehr die jiddische Dichtung von Stalins Verfolgungswahn zugrunde gerichtet wurde, beschrieb auch Daria Vakhrushova. Ihr Thema lautete »Peretz Markish, die junge jiddische dichtung un die naje sowetische meluche«. Seit 2021 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Heinrich-Heine-Universität. Nun pendelt sie wöchentlich nach München, um das Jiddisch-Lektorat, das Evita Wiecki aufbaute, weiterzuführen.
Efrat Gal-Ed, deren erste Sprache das Hebräische ist, für die Jiddisch jedoch zunehmend an Bedeutung gewann, stellte ihrem Vortrag eine Gedichtzeile von Anna Margolin (geboren 1887 in Brest, gestorben 1952 in New York) voran: »Ich geh durch tausend hoch gewölbte Tore.« Gal-Ed sprach über nahezu vergessene Dichterinnen wie Fradl Shtok, Kadya Molodowsky und Debora Vogel.
Für Frauen war es schwer, sich in der literarischen Welt zu behaupten.
Trotz immer wieder ausgesprochener Anerkennung war es für Frauen im Gegensatz zu Autoren wie Yankev Glatshteyn und Moische Kulbak schwer, sich in der literarischen Welt zu behaupten. »Als die wichtige Anerkennung ausblieb«, so Efrat Gal-Ed, »verstummten sie.« Sehr eindrücklich wird ihre Lesung der Gedichte in Jiddisch und Deutsch und deren wiederholter Vortrag in Erinnerung bleiben. Die Bedeutung erschloss sich beim zweiten Hören wie von selbst.
STANDARDWERK Besondere Erwähnung bedarf auch der Vortrag von Hanan Bordin, der 1978 aus Riga nach Israel emigrierte, Hebräisch lernte, Jiddisch studierte und dieses Fach seit bald 40 Jahren lehrt, erst an der Hebräischen Universität und zuletzt in Regensburg. Sein Buch Vort Bay Vort: Materyaln Far Onheybers gilt als Standardwerk. Wer sich wie Bordin fragt: »jidisch wi an ofizjele schprach: wu und wen?«, denkt nicht gleich an Gesetze, Diplome, Straßenschilder in Jiddisch, wie es sie in Birobidschan einmal gab, und daran, dass eine offizielle Sprache auch gelehrt werden muss.
Evita Wiecki und Ghini Zaidman (1924–2011), zu dessen Andenken der Tag von seiner Witwe Birgita unterstützt wurde, hätten »nuʼe« (Genuss) gehabt. Die Söhne der einen und Töchter des anderen waren anwesend, ein besonderes Zeichen der Wertschätzung.