Ob Unorthodox oder Shtisel, ob One of Us oder My Unorthodox Life – Geschlechterrollen im Judentum werden beispielsweise vom Streamingdienst Netflix zur Genüge porträtiert, wenn auch leider nur selten differenziert. Mit weit verbreiteten Klischees sollte der Vortrag zum Thema »Die Rolle der Frau im (orthodoxen) Judentum« in der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden nun aufräumen.
Nastya Quensel, Projektkoordinatorin der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) im Bereich Bildungsarbeit, referierte zu Quellen aus Tora und Talmud, die die Rolle der Frauen exemplarisch veranschaulichen – von Sarah über Mirjam und Hannah bis Tamar.
Taten Den meisten dieser Textpassagen ließe sich eine prägnante Botschaft entnehmen: »Jüdische Frauen haben sich durch mutige Worte und Taten ihren Platz im Judentum geschaffen«, so Quensel. Dabei sei das Judentum – auf den ersten Blick patriarchisch geprägt wie die anderen Weltreligionen – nicht bloß als ein Kollektiv religiöser Riten zu verstehen. Das Judentum sei in erster Linie eine Gemeinschaft, in der Frauen heute, wie in biblischen Zeiten, eine unentbehrliche Rolle einnehmen.
Tora und Talmud sind der Beweis dafür, dass Frauen das jüdische Volk stets vorwärtsgebracht haben.
Und diese Rolle ist heute umstrittener denn je. »Danke Dir, Gott, dass Du mich nicht als Frau erschaffen hast«, lautet einer der Segenssprüche, die religiöse jüdische Männer jeden Morgen rezitieren. Dass diesem Segensspruch der Umstand zugrunde liegt, dass jüdischen Männern von Gott wesentlich mehr Gebote auferlegt werden, für welche man sich in Form des Segensspruches erkenntlich zeigt, bliebe in der Rollendebatte oft unberücksichtigt, wie Quensel in ihrem Vortrag ausführte.
Man könne anhand des Segensspruches den Grund für die unterschiedlichen Geschlechterrollen im Judentum erklären: Es geht nicht darum, dass Frauen viele jüdische Riten nicht ausführen dürfen. Sie müssen es im Gegensatz zu Männern schlichtweg nicht.
Beteiligung Während orthodoxe und konservative Synagogen sich weiterhin an diesem Prinzip orientieren, haben sich liberale Gemeinden dem Wunsch mancher Frauen nach gleicher Beteiligung an den religiösen Pflichten geöffnet. Auch hier treten Frauen als Motor der Entwicklung und Vielfalt im Judentum in Erscheinung. Aber auch das traditionelle Judentum kann nach Ansicht und Erfahrung Quensels, die sich selbst als modern orthodoxe Jüdin beschreibt, eine ganze Menge Feminismus vertragen.
Dies zeige sich aktuell an der ersten orthodoxen Rabbinerin von Berlin, Rebecca Blady. Tora und Talmud seien der Beweis dafür, dass Frauen auch durch Normen- und Tabubrüche das jüdische Volk stets vorwärtsgebracht haben. Dabei schritten sie – wie ihre männlichen Gegenüber – jedoch selten allein voran, sondern wurden von ihren Partnern, Familien und Vertrauten unterstützt. Auf die Frage, wo es Räume für Frauen im Judentum gibt, findet Nastya Quensel jedenfalls folgende Antwort: »Da, wo man sie sich schafft!«