Standpunkt

»Gefährliche Gratwanderung«

IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch über die Flüchtlingsdebatte

von Charlotte Knobloch  19.10.2015 23:12 Uhr

Warnt vor einer Zunahme des importierten Antisemitismus: Charlotte Knobloch Foto: Steffen Leiprecht

IKG-Präsidentin Charlotte Knobloch über die Flüchtlingsdebatte

von Charlotte Knobloch  19.10.2015 23:12 Uhr

Angesichts der Hunderttausenden von Flüchtlingen, die in unserem Land ankommen, erleben wir zwei Extreme. Der eine gesellschaftliche Pol ist die fast überschwängliche, zum Teil von rührender Naivität getragene Welle der Herzlichkeit. Der Gegenpol sind die kalte und menschenverachtende Hetze, die Anschläge und Aufmärsche gegen die Geflüchteten. Dazwischen stehen jene, die weder die Euphorie noch den Hass teilen: solche, die den sogenannten Gutmenschen Tugendwacht vorwerfen, aber glaubhaft die rechtsextremen Exzesse verachten.

Und schließlich viele, die die Notwendigkeit zu helfen sehen, die aber zunehmend verunsichert sind und täglich skeptischer werden, wie das zu schaffen sein soll. Allzu offensichtlich ist die Belastungsgrenze, an die Infrastruktur, Verwaltung und eben auch die Bürgerschaft stoßen, zu unkonkret bleiben die Antworten auf die Fragen, wie, wann und mit welchen Konsequenzen unser Land diese Situation bewältigen kann.

Werteordnung Auch in der jüdischen Gemeinschaft herrscht eine ambivalente Stimmung: Die verbreitete neue deutsche Offenheit zu erleben, die Willkommenskultur, ist eine Wohltat. Gleichzeitig sehen wir die immense Integrationsaufgabe. Rund eine Million Menschen müssen nicht nur in unser System eingegliedert, sondern vor allem in unsere Werteordnung integriert werden. Die Flüchtlinge müssen ihrerseits beweisen, dass sie wirklich in Deutschland ankommen wollen – also auch und gerade in unserer liberalen Wertegemeinschaft. Diese lässt keine Abstriche bei Freiheitlichkeit und Rechtsstaatlichkeit zu.

Ganz konkret besteht die Sorge, Flüchtlinge importierten die antisemitischen Einstellungen, die in den meisten ihrer Heimatländer die Sozialisierung prägen. Fest steht: Einen weiteren Anstieg von Judenfeindschaft und Hass kann sich unser Land nicht leisten. Schon heute ist Antisemitismus wieder salonfähig, und die Solidarität mit Israel in unserem Land schwindet zusehends. Das belegt nicht nur die zum Teil sehr fragwürdige mediale Wiedergabe der jüngsten Gewalteskalation in Israel, sondern vor allem die Resonanz darauf.

Die bisweilen sehr einseitige Haltung der Medien zu beklagen, reicht nicht. In erster Linie ist es Aufgabe der Politik, den Menschen in Deutschland zu erklären, warum die Sicherheit und das Existenzrecht Israels im deutschen Interesse liegen und warum die Bundesrepublik alles daransetzen muss, jene Kräfte zu unterstützen, die wirklich daran interessiert sind, Frieden in der Region zu schaffen. Die Menschen in Israel sehnen sich nach Frieden und werden Opfer brutalster und hinterhältigster Terrorakte. Deutschland muss hier unmissverständlich an der Seite Israels stehen und darf nicht zulassen, dass die Kluft zwischen politischer Räson und gesellschaftlicher Stimmung weiter wächst.

antijüdisch Umso verheerender wäre es, wenn der Import von strukturellem Antisemitismus dem antijüdischen Trend Vorschub leisten würde. So selbstverständlich wir Menschen in Not helfen müssen, so selbstverständlich muss der Antisemitismus, der bei einer nennenswerten Anzahl der Flüchtlinge aufscheint, im Keim erstickt werden. Diesmal darf es keine Toleranz gegenüber einer Parallelgesellschaft und einer Parallelkultur geben. Das wäre desaströs und ginge ohne Zweifel erheblich zu Lasten der jüdischen Bürger in unserem Land. Deutschland darf nicht aus falsch verstandener Rücksicht zögern, Forderungen an die Neuankömmlinge zu stellen. Nicht Deutschland muss sich verändern. Die Menschen, die zu uns kommen, müssen ihre Einstellungen zu bestimmten Themen verändern, wenn sie hier bei uns und mit uns eine neue Heimat finden möchten.

Ob die Integration gelingt und ob damit verhindert werden kann, dass sich die antisemitischen Exzesse des letzten Jahres bei nächster Gelegenheit nochmal potenzieren, steht in den Sternen. Was wir heute schon sehen, ist das erschreckende Ausmaß rechtsextremer Phänomene – bundesweit, auch in Bayern, auch hier in München. Die rechtsradikalen Kleinstparteien, Kameradschaften und sonstige Gruppierungen mobilisieren sich, haben Zulauf und sind zunehmend gewaltbereit und -tätig.

Handelt es sich hierbei noch um Hundertschaften, so sind die Rechtspopulisten von Pegida und Co. längst in Zehntausendschaften unterwegs. Darunter einschlägige Straftäter und lupenreine Neonazis. Jüngst wurde bekannt, dass der Vorstand von Pegida München, gegen den wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung ermittelt wird, offenbar Kontakt zu Martin Wiese pflegte, jenem verurteilten Rechtsterroristen, der die Grundsteinlegung für das Jüdische Zentrum in München in ein Blutbad verwandeln wollte. Es ist schlichtweg unerträglich, dass dieser braune Mob auf deutschen Straßen ungehindert Menschenverachtung propagiert. Jüngst posierten die Neonazis in der Feldherrnhalle.

Neonazis Die aktuelle Rechtslage ist offensichtlich nicht geeignet, unsere politische Kultur und unsere demokratischen Grundwerte zu beschützen. Zumal nicht einmal verhindert wird, dass die Neonazis an historisch vorbelasteten Orten die Opfer des Nationalsozialismus verunglimpfen und den Nationalsozialismus verharmlosen oder gar verherrlichen. Das ist der Begleitchor zu den Gewalttaten gegen Flüchtlingsunterkünfte, die ständig zunehmen.

Fakt ist: Das radikale Potenzial in unserem Land übersteigt die Befürchtungen. Es ist erschreckend, wie erfolgreich die Rechtsradikalen mit ihren Hetzkampagnen zu Menschen durchdringen, die der rechtsextremen Szene bisher nicht zuzuordnen waren, aber offenbar für das Gedankengut empfänglich sind. Der Verfassungsschutz warnt vor einem Schulterschluss zwischen rechtsextremistischen Parteien und aufgepeitschten Bürgern. Eine verheerende Allianz, der die Pegida-Bewegung den Weg gebahnt hat, weil sie die Atmosphäre in unserem Land mit Hass und Rassismus vergiftet. Inzwischen tritt die Pegida-Bewegung offen antisemitisch auf. Es war ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis die Maske fallen wird.

Noch warte ich auf die systematischen Konzepte der demokratischen Parteien, um dieser Entwicklung zu begegnen. Denn »Wir schaffen das« muss auch bedeuten, diese Radikalisierung, die sich zusehends bis in die Mitte der Gesellschaft frisst, zu stoppen. Die Formel von der »kippenden Stimmung« macht die Runde, und das sich dahinter verbergende Szenario erfüllt mich mit großer Sorge. Mehr denn je ist es eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung, das freiheitlich-demokratische Denken in unserem Land zu stärken.

Wir dürfen keinen Zweifel daran lassen: Jeder, der hier lebt, muss Respekt vor dem anderen praktizieren und die Gleichberechtigung jedes Individuums unbedingt akzeptieren. Wer hier lebt, muss sein eigenes Handeln und seine Äußerungen – analog wie digital – selbstkritisch reflektieren. Bleibt dies unberücksichtigt, muss das empfindliche Konsequenzen haben. Ansonsten drohen unabsehbare, schmerzliche Folgen für unsere Heimat.

Musik

Virtuose Spiellust

Der Pianist Ido Ramot gab ein Konzert in der Münchner Zaidman-Seniorenresidenz

von Vivian Rosen  18.03.2025

Thüringen

Geschichte, Gedenken, Gegenwart

80 Veranstaltungen an 16 Orten: In Gera werden die 33. Jüdisch-Israelischen Kulturtage eröffnet

von Esther Goldberg  18.03.2025

Leserbriefe

»Es gibt uns, nichtjüdische Deutsche, die trauern und mitfühlen«

Nach der Sonderausgabe zum Schicksal der Familie Bibas haben uns zahlreiche Zuschriften von Lesern erreicht. Eine Auswahl

 17.03.2025

Köln/ Frankfurt

Trauer um Michael Licht

Nach schwerer Krankheit ist der ZWST-Vizepräsident im Alter von 70 Jahren verstorben

 17.03.2025

Ruhrgebiet

»Und weil er hofft und liebt«

Recklinghausen gedachte des Gemeindegründers Rolf Abrahamsohn an dessen 100. Geburtstag

von Stefan Laurin  16.03.2025

Ausstellung

Fragile Existenz

Das Jüdische Museum Berlin zeigt historische Fotos aus den Gemeinden der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit

von Eugen El  16.03.2025

Gedenken

Der vergessene Ingenieur

Die Stadt setzt Erinnerungszeichen für Arthur Schönberg, den Mitbegründer des Deutschen Museums, und drei Angehörige seiner Familie

von Luis Gruhler  16.03.2025

Frankfurt

Bildungsarbeit gegen Rassismus und Fake News

Antisemitismus im Keim ersticken - das versucht das Jüdische Museum mit einer Workshop-Reihe an Schulen

von Lukas Fortkord und Ina Welter  16.03.2025

Porträt der Woche

Die Zuhörerin

Mariya Dyskin ist Psychologin und möchte sich auf Kriegstraumata spezialisieren

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.03.2025